WAHLBOYKOTT
2005

Diskussions-Seite

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Um die Diskussion übersichtlich zu halten, haben wir inzwischen für jede Woche eine eigene Unter-Seite eingerichtet. Die Unter-Seiten sind jeweils über eine Navigations-Leiste am oberen und unteren Ende erreichbar.


19.09.05
[Demokratie-Diskussion]

Hallo Leute!

Auch in den USA und Großbritannien gibt es eine Diskussion über demokratische Planung und Steuerung der Wirtschaft. Ich gehe mal von der gemeinsamen Grundlage aus, daß die gesellschaftliche Demokratisierung nur mit Hilfe einer Demokratisierung der Wirtschaft zu erreichen ist. Hier einige Überlegungen aus der angelsächsischen Diskussion:

Ein in sich schlüssiges und realistisches Modell einer demokratisch gestalteten Wirtschaft ist als Antwort auf das TINA-Dogma und auf den mehr als Frage denn als Forderung erscheinenden Slogan "Eine andere Welt ist möglich" unabdingbar. Eine Kritik an den "Sachzwängen", die tatsächlich zwangsläufig sind, wenn der Kapitalismus nicht in Frage gestellt wird, ist sonst vergeblich.

Ein weiterer Aspekt kommt hinzu: Wie sollen Menschen für eine demokratische Alternative gewonnen werden, wenn nicht wenigstens in Umrissen zu erkennen ist, wohin die Reise gehen soll? Die Angst, daß eine als Sozialismus deklarierte Diktatur ein weiteres Mal alle Mühen und Risiken einer gesellschaftlichen Veränderung zunichte machen könnte, steckt den Menschen tief in den Knochen. "Ein Grund der gegenwärtigen Schwäche der europäischen Linken ist ihr Unvermögen, in ausreichendem Detail zu spezifizieren, was ihre alternative Vision beinhaltet und wie sie mit den mannigfaltigen Komplexitäten des sozialen Lebens in modernen Gesellschaften umgeht" (Breitenbach et. al. 1990, IX).

Grundlegend für ein Modell demokratischer Wirtschaftslenkung muß es sein, daß die Entscheidungen direkt oder indirekt von denjenigen getroffen werden, die von ihnen betroffen sind. Dabei müssen über die ArbeiterInnen, Angestellten und KonsumentInnen hinaus die Gemeinden einbezogen werden, in denen die Produktion oder Dienstleistung stattfindet. Weiter müssen auch gesellschaftliche Gruppen, die sich für übergeordnete Ziele wie Umweltschutz oder Gleichbehandlung einsetzen, in die Entscheidungsfindung einbezogen werden. Wichtig ist es, einen Rahmen zu entwickeln, in dem ein Wechselspiel zwischen professionellen PlanerInnen und den an der öffentlichen Diskussion beteiligten Gruppen organisiert werden kann. Planvarianten werden ausgearbeitet, die verschiedene oder gegensätzliche Richtungen in der öffentlichen Diskussion wiederspiegeln, und diese Varianten werden erneut öffentlich diskutiert.

Unternehmen werden dann von einem gewählten Personenkreis geleitet, der nach einem festzulegenden Schlüssel von den genannten Gruppen beschickt wird. Dieser Personenkreis muß rechenschaftspflichtig sein und Einzelne können jederzeit abgewählt werden.

Ein wichtiger Punkt, über den bis heute kontrovers diskutiert wird, ist die Frage, ob der "Markt" - also Angebot und Nachfrage - mit Hilfe der modernen Kommunikationsmittel koordiniert werden soll. Eine der diskutierten Modelle sieht vor, daß jedes Unternehmen eigenständig darüber entscheiden soll, was produziert und was angeboten werden soll. Erforderlich ist dabei eine Prognose der zu erwartenden Nachfrage. Die Gefahr einer Manipulation der Nachfrage mit Werbung, Public Relation und Marketing Strategien kann so nicht ausgeschaltet werden. Dem gegenüber steht eine Argumentation, die Flexibilität und Aufmerksamkeit für die Nachfrage der KundInnen als positive Merkmale der Marktwirtschaft erhalten möchte. Marktelemente sind zentrale Bestandteile des Modells "partizipatorischer Planung".

Eine sowohl kooperative und zugleich partizipatorische Planung würde die Basis des konventionellen Gegensatzes zwischen Markt und Plan überwinden. Fachlich gesprochen könnte so der Gegensatz zwischen ex-ante-Koordination - die durch den Plan erreicht werden sollte, was sich als unmöglich zu lösende Aufgabe herausgestellt hat - und der ex-post-Koordination - die durch den idealen Markt erfolgt, mit all ihren realen Folgeproblemen von Rezession bis Verschwendung - aufgelöst werden.

Kooperative Planung ist ein Prozeß, der weder einfach als ex-ante oder als ex-post beschrieben werden kann. Sie wäre in dem Sinne ex-ante als sie über die Vergesellschaftung des Wissens um Markttrends und über öffentliche Forschung zu Marktchancen neuentwickelter Produkte verfügen könnte. Dabei würde sich ein sozial gerechtes und egalitäres Gleichgewicht entwickeln. Als ex-post ließe sich die Nachfrage auch durch eine regelmäßige und stichprobenartige Ermittlung der KundInnenwünsche am Ort des Einkaufs, dh. am "Markt", ermitteln. Auch wären öffentliche und kooperative Aktionen ex-post notwendig, um unvermeidlich aufgetretene Fehlallokationen von Ressourcen zu beseitigen.

Ein wichtiger Aspekt einer demokratisierten Wirtschaft stellt die Vergesellschaftung des Wissens dar. Hierarchie und Macht beruht im wesentlichen darauf, die allgemeine Zugänglichkeit und Verfügbarkeit von Wissen einzuschränken ("Herrschaftswissen"). Ansätze für eine solche Vergesellschaftung stellen beispielsweise Wissenschaftsläden dar. Auch regionale Netzwerke unter Alternativbetrieben haben eine wichtige Funktion im Austausch von Wissen und Erfahrungen. Die Öffnung und Verallgemeinerung ökonomischen Wissens ist "eine Basis für kooperative ökonomische Koordination, die ebensowenig unrealistische Vorannahmen und Voraussetzungen macht in bezug auf die Möglichkeit totaler Transparenz wie in bezug auf die permanente Partizipation des Volkes über die Institutionen des Alltagslebens hinaus" (Wainwright 1994, S. 273) Die Autorin sieht die Netzwerke als Chance, der historisch sattsam bekannten Unterminierung ökonomischer Selbstverwaltung durch Marktprozesse und durch die (auch bei Selbstverwaltung nicht aufgehobenen) Partialinteressen der einzelnen AkteurInnen und Unternehmen anders zu begegnen als allein durch den Staat, der gerade über die dezentral verankerten Wissensbestände gar nicht verfügt: "Transparenz könnte eher durch die Zugängigkeit als durch die permanente Möglichkeit eines kompletten Bildes erreicht werden. Letztere stellt sich in der Realität als Unmöglichkeit oder als autoritäre Phantasie heraus."

Wainwright hebt hervor, wie wichtig es ist, das notwendige Wissen entlang der gesamten Kette von Produktion, Distribution und Konsumtion zusammenzubringen und es für die Gestaltung der Güter und Dienstleistungen sowie ihre Erarbeitung maßgebend werden zu lassen. Ziel ist dabei, die wechselseitige Abhängigkeit von Konsum, Produktion und den Bedingungen des täglichen Lebens bewußt zu gestalten.

Als praktischer Ansatz einer gesellschaftlichen Gestaltung des Wirtschaftens sind in der Debatte die Aktivitäten der linken Londoner Stadtverwaltung (Greater London Council) in den 80er Jahren Thema. Über sie und die Abschaffung des GLC durch die Thatcher-Regierung informieren Livinstone (1987) und MacIntosh, Wainwright (1987). In einem internationalen Symposium über "Lokale Ökonomie" (vgl. Forschungprojekt ‘Lokale Ökonomie’ an der TU Berlin (Hg.) 1994) wurde geschildert, wie im London des GLC bspw. "öffentliche Entwicklungswerkstätten für Produktentwicklung und -innovation" zugeschnitten auf die notwendigen Produkte den "geeigneten Ort (bilden), an dem Ideenträger, Experten, Nutzer und Produzenten zusammenkommen und gemeinsam nach Lösungswegen suchen. (...) Die technischen und wirtschaftlichen Ressourcen können über Vernetzung und Kooperationsvereinbarungen mit Hochschulen, Bildungsstätten und Forschungseinrichtungen erschlossen werden." (Birkhölzer in: Forschungsprojekt 1994, S. 31).

Im Unterschied zu Modellen des Marktsozialismus faßt Pat Devine sein Modell vereinbarter Koordination als antizipatorisch auf. "Es antizipiert eine Gesellschaft, in der die Leute im Prinzip wünschen, im sozialen Interesse zu handeln. Das Problem besteht dabei darin, daß sie gemeinsam zu entscheiden haben, was dieses gemeinsame soziale Interesse in der Praxis bedeutet. Der Prozeß der vereinbarten Koordination würde eine Übung in Selbstregierung darstellen, die nicht ein illegitimes Konzept eines als unproblematisch vorhanden betrachteten sozialen Interesses anruft. Stattdessen wird gerade das soziale Interesse auf jedem Level der Entscheidungsfindung definiert durch jene, deren Interesse es ist" (Devine 1992, S. 85). Devine weist darauf hin, es sei ein Problem zu entscheiden, welche Interessen in welcher Proportion in einem Betrieb repräsentiert sein sollen. Allerdings handele es sich dabei um eine für partizipatorische Demokratie allgemein einschlägige Schwierigkeit. Dem Einwand einer administrativen Aufblähung der Gremien und zu großer Komplexität entgegnet Devine mit dem Argument, daß die Entscheidungen der Unternehmensgremien auf politisch vorentschiedenen Maßgaben und Richtungslinien basieren. Zugrunde liegt die Erwartung, ein Entscheidungsprozeß, in dem alle Betroffenen beteiligt sind, führe zu einem größeren Verständnis der involvierten unterschiedlichen Belange und bringe eine Dynamik in Richtung Kompromiss und Konsens hervor.

Ein auch auf deutsch bereits 1990 publiziertes, aber kaum diskutiertes Konzept zur Wirtschaftsgestaltung findet sich bei Diane Elson: 'Markt-Sozialismus oder Sozialisierung des Markts'. Einen ersten Ausgangspunkt für ihre Überlegungen bildet hier das kapitalistischen Märkten eigene Übergewicht von AnbieterInnen gegenüber KäuferInnen aufgrund eines Informationsvorsprungs, aufgrund der betrieblichen Geheimhaltung von Informationen und aufgrund der professionelleren Einkaufs- und Verkaufspolitik der Unternehmen im Vergleich zu den Konsumenten. Es "handeln Haushalte im Normalfall die Preise nicht mit den Einzelhändlern aus; wenn sie feilschen können, z. B. mit einer Baufirma oder einem Innenarchitekten, hängt die Fähigkeit, einen guten Preis zu erzielen, davon ab, ob sie ein beträchtliches Maß an Zeit und Know-how einbringen können. Meistens kann die Wahl nur innerhalb einer vorausbestimmten Warenpalette zu vorausbestimmten Preisen getroffen werden, die die Haushalte lediglich annehmen oder ablehnen können, während Unternehmen große Mittel einsetzen können, um Haushaltsüberlegungen zu beeinflussen und die Kenntnisse der Haushalte von den Produkteigenschaften zu kontrollieren. Haushalte sind nicht in der Lage, spezialisierte Einkäufer zu beschäftigen, um zu garantieren, daß sie die beste Ware erhalten" (Elson, S. 64).

Die Grundforderung einer "Sozialisierung des Marktes" richtet sich auf die Sozialisierung des Preisbildungsprozesses. Durch die Veröffentlichung der Informationen über Stückkosten und Profitspannen soll für Transparenz gesorgt werden. KäuferInnen-VerkäuferInnen-Netzwerke wären die Grundlage für einen dezentralisierten sozialen Planungsprozeß, in dem die Implikationen der Investitionspläne verschiedener Einheiten vor dem Abschluß der Pläne eingeschätzt werden könnten. Die auch in Marktökonomien ausgebildeten informellen Netze sollen in öffentliche Informationsnetze mit allgemeinem Zugang überführt werden - statt in ‘inneren Kreisen’ oder ‘Industrieclubs’ stattzufinden, aus denen ‘Außenseiter’ ausgeschlossen bleiben. Derartige Netze hätten Sekretariate, die aus Steuergeldern bezahlt werden statt durch den Verkauf ihrer Dienstleistungen. Sozialisierte Märkte würden von öffentlichen Körperschaften getragen, die mehr aus der Besteuerung der Unternehmen und Haushalte finanziert werden als aus ihren Umsätzen.

Diane Elson schlägt ein "Amt für die Regulierung der öffentlichen Unternehmen" vor. Es solle nicht wie die Behörden einer Zentralplanwirtschaft Produktionsziele festlegen und Produktionsmaterial verteilen, sondern bestimmte demokratisch festgelegte Normen für die Nutzung öffentlicher Anlagen durchsetzen. RegulatorInnen der öffentlichen Unternehmen würden im Namen der Gemeinschaft die Eigentumsrechte an den Unternehmen ausüben, während die Unternehmensangestellten auf NutzerInnenrechte beschränkt wären. Die Unternehmensaktivitäten finden im Rahmen ebenso enger wie durch gut ausgestattete InspektorInnen überprüfter Umweltschutz-, Gesundheits-, Sicherheits- und VerbraucherInnenschutznormen statt. Betriebsgründungen würden ermutigt. Teams von Arbeitern könnten bei RegulatorInnen die Erlaubnis beantragen, ein neues öffentliches Unternehmen zu gründen, und sich dafür (gegen Zinsen) öffentliche Gelder zuweisen zu lassen. In einigen Industriezweigen könnte ein System eingeführt werden, wonach Teams von ArbeiterInnen beantragen könnten, öffentliche Einrichtungen für einen bestimmten Zeitraum zu betreiben. Es gäbe Spielraum für eine Vielfalt von Formen öffentlicher Kontrolle und dezentralisierter Initiative. Elson schließt Kapitalmärkte mit Übernahmen und Bankrotten aus. Im Falle der Zahlungsunfähigkeit von Unternehmen und der Notwendigkeit, sie zu sanieren, handeln die RegulatorInnen der öffentlichen Unternehmen. Ihre Aufgabe ist es, die Unternehmen zu restrukturieren. Die Maxime dabei ist, Entlassungen zu vermeiden und den MitarbeiterInen vergleichbare Arbeitsplätze in anderen Unternehmen anzubieten oder ihnen nach einer Umschulung neue Arbeitsplätze zu verschaffen.

Ein weiteres Detail in Diane Elsons Modell ist ein VerbraucherInnenverband, der als Netz-Koordinator fungiert, zwischen Haushalten und Unternehmen aus Produktion, Groß- und Einzelhandel von Konsumgütern und Dienstleistungen. Er würde Informationen über die Qualität der Güter und Dienste liefern, ebenso wie das Verbraucherverbände in einigen industrialisierten kapitalistischen Ländern bereits tun; aber er würde mehr tun: Er würde auch Informationen liefern über die Bedingungen, unter denen Güter und Dienstleistungen erbracht werden, und über ihre Implikationen für die Umwelt. Waren, die unter ‘empfehlenswerten’ Bedingungen produziert werden (sei es in bezug auf Ökologie, Geschlechterdiskriminierung oder humane Arbeitsbedingungen), könnten hervorgehoben werden. Der Verbraucherverband würde Haushalte dazu erziehen, die Implikationen ihrer Einkäufe breiter zu überschauen als nur die unmittelbar notwendigen Einkäufe so billig als möglich zu tätigen. Das würde Haushalten helfen zu erkennen, daß das, was auf den ersten Blick und vom individuellen Gesichtspunkt aus als ‘guter Kauf’ erscheint, langfristig alle möglichen schädlichen Folgen haben kann. Beim Verbraucherverband wären alle Unternehmen mit ihren Angeboten an Gütern und Dienstleistungen registriert. Die Informationen über ihre Produkte, Produktionsmethoden und den Lagerstand wären offenzulegen. Es handelt sich dabei um von den Unternehmen zu eigenen Zwecken ohnehin benötigte Informationen. Die bisher für Marktforschung und Werbung verwandten Ressourcen könnten in den Verbraucherverband umgeleitet werden. Er gibt den Haushalten die Möglichkeit, selbst Produktionen anzuregen, anstatt nur auf die Initiative der Lieferanten reagieren zu müssen. Zum Personal des Verbandes würden nicht nur Fachleute für Verbraucherrecht und Verbraucherschutz gehören, sondern auch Designer und Ingenieure, die unbefriedigte Bedürfnisse identifizieren und entsprechend mit Lieferanten verhandeln würden. Es ist schwierig für Haushalte, den besten Weg zu bestimmen, wie ihre Bedürfnisse befriedigt werden, wenn sie nicht die Bandbreite technischer Möglichkeiten kennen.

Bei aller Wünschbarkeit der Dezentralisierung von Entscheidungen zur Kapazitätsauslastung und Innovation bliebe Elson zufolge zentrale Planung für die gesamte Wirtschaft notwendig als Gesamtstrategie, um festzulegen, welche Sektoren expandieren, welche abnehmen sollen; wieviel für Investitionen und wieviel für Konsum angesetzt werden soll; und welche Engpässe behoben, welche als Grenzen akzeptiert werden sollen. Aber diese Strategie würde nicht durch die zentralisierte Zuweisung materieller Ressourcen und Produktionsziele für jedes Unternehmen durchgesetzt. Die zentrale Planung setzt Parameter fest, die den Operationshorizont der einzelnen Unternehmen markieren, und antezipiert wichtige Interdependenzen in Form einer Leitlinie, einer Vision der Zukunft, nicht einer Vorgehensweise zur detaillierten Zuweisung materieller Inputs. Die PlanerInnen im Zentralbüro für Wirtschaftsplanung würden sich auf die Informationsnetze von KäuferInnen und VerkäuferInnen von Schlüsselressourcen stützen, um alternative Szenarios zu entwerfen, über die dann demokratisch entschieden werde.

Dem Einwand hoher Kosten und hohen Zeitaufwandes für demokratische Planung kann mit dem Hinweis auf die bereits unter gegebenen Verhältnissen immense Arbeit der Kalkulation, Marktforschung und Planung begegnet werden. Die Transaktionskosten, die als Such- und Informationskosten, Verhandlungskosten und Kontroll- und Sanktionskosten anfallen, werden für die USA mit 55 Prozent des Bruttosozialprodukts beziffert (Dietmar Braun, 'Theorie rationalen Handelns in der Politikwissenschaft' 1999, S. 237). Der Konkurrenz geschuldete Doppelarbeiten, die aus der Unterwerfung der Arbeitenden unter das Kapital begründeten Kontrollen und Spaltungen, die Produktion von Gütern, die Schäden mit sich bringen oder für ihre Nachfrage voraussetzen, die Kompensation negativer Effekte der ex-post-Koordination auf dem Markt und so weiter schaffen einen Überschuß an Arbeit, der in einer anderen Gesellschaft wegfallen könne. So gäbe es keinen Anlaß von vornherein anzunehmen, daß der Zeitaufwand für eine demokratische Gesellschaft den heute üblichen übersteigen würde. Wohl aber würde sich die soziale Verteilung des Zeitaufwandes verändern.

M.

 

21.09.05

Hallo Leute!

Ich möchte hier mal noch was zum Wahlergebnis sagen. Der Interpretation des InitiatorInnenkreises vom Sonntag (zu finden auf der Hauptseite) kann ich zwar im Großen und Ganzen zustimmen. Ergänzen möchte ich aber, daß wir uns von dem ganzen Farbenspiel und dem jetzt begonnenen Koalitionsringelrein nicht irre machen lassen sollten: Schwarz-Rot-Gelb-Grün ist eine einzige neoliberale Einheitspartei. Es wird jetzt wieder so getan als gäbe es gravierende Unterschiede zwischen den Vieren oder gar Unvereinbarkeiten. Alles ein riesiger Schwindel!

Womit die Mächtigen nicht gerechnet haben, ist, daß sich Schröder nicht so einfach damit abfindet, ausgedient zu haben. Ohne dessen fulminanten Endspurt hätte es Schwarz-Gelb - wie vorgesehen - geschafft. Hinzu kommt, daß doch - anders als Inge am Sonntag meinte - die Menschen sich hierzulande mehrheitlich allzu leicht hinters Licht führen lassen. Schröder mußte nur ein bißchen soziales Süßholz raspeln und schon vielen Hunderttausende wieder drauf herein! Unter diesem Gesichtspunkt wäre es fast das beste gewesen, Rot-Grün hätte nochmals eine Mehrheit bekommen und alle hätten sich davon überzeugen müssen, daß der Sozialabbau nicht nur unvermindert, sondern mit beschleunigtem Tempo fortgesetzt wird. Nicht nur das: Ich bin sicher, eine Rot-Grüne Regierung hätte - nach dem schwedischen Vorbild - auch den sogenannten Atomausstieg selbst gekippt und bis 2007 kein einziges AKW stllgelegt.

Ich setze halt immer noch auf die Lernfähigkeit der Menschen. So auf andere herunterzuschauen wie Christian, der am Sonntag von "Konsumgeilheit und verblödetem Individualismus" schreib, finde ich äzend! Allerdings komme auch ich nicht daran vorbei, daß offenbar rund 68 Prozent der Wahlberechtigten Schwarz-Rot-Gelb-Grün gewählt haben. ...ist schon schaurig!

Solidarische Grüße

Manuela

 

21.09.05

Hallo Leute!

Es ist ja bereits hin und wieder diskutiert worden, welche Rolle wohl die "Linkspartei" im neuen Bundestag spielen wird. Klar war einerseits, daß sie nicht mit fliegenden Fahnen "Rot-Grün" zu Hilfe eilen könnte - nachdem sie sich ja gerade in Abgrenzung zur SPD im Wahlkampf profiliert hatte. Diese Abgrenzung ist jedoch keineswegs grundsätzlicher Art: Weder wurde "Rot-Grün" unzweideutig als Teil der neoliberalen Einheitspartei angegriffen, noch hat die "Linkspartei" eine echte Alternative - es sei denn, wir nähmen die neo-sozialdemokratischen Versatzstücke in deren Programmatik ernst.

Es wird nun wohl noch einige Wochen Koalitionsverhandlungen als höchst spannendes Theaterstück geboten werden und vielleicht müssen wir noch dieses Jahr oder Anfang nächsten Jahres erneut Bundestagswahlen über uns ergehen lassen. Aber über kurz oder lang ist dies die zweite Präferenz des Kapitals: Eine "rot-rot-grüne" Koalition oder eine von der "Linkspartei" tolerierte Neuauflage der "rot-grüne" Koalition könnte die anstehende Verschärfung des Sozialabbaus sicherlich mit weniger gesellschaftlichem - und insbesondere gewerkschaftlichem - Widerstand umsetzen als eine "schwarz-gelbe" Koalition.

Wie nicht anders zu erwarten, traten bereits die ersten "Minenhunde" auf. Als erster brachte Brandts früherer Chefunterhändler mit der DDR, Egon Bahr, die "rot-rot-grüne" Option ins Gespräch: "Auf die Dauer kann das was werden, wenn die Linken sich denn bewegen." Heute meldete sich auch Hartmut Meine, Bezirksleiter der IG Metall für Niedersachsen und Sachsen-Anhalt zu Wort: "mittelfristig" sei dies doch überlegenswert. Von den "Grünen" plädierte Tabea Rößner, Landesvorstandssprecherin in Rheinland-Pfalz, zumindest für Gespräche mit den PDS-Nachfolgern, und auch deren "links-grünes" Alibi-Männchen Hans-Christian Ströbele favorisiert ganz offen ein Zusammengehen mit der "Linkspartei". Hinterher plapperten Möchtegern-Promis wie Diedrich Diederichsen, der "irgendwie die linke Politik neu erfinden" will, und der attac-Dauerredner und FU-Professor Peter Grottian, der "Rot-Grün" eine "limitierte Tolerierung" anbieten würde. Das hört sich schon danach an als würde es - für die unteren Zweidrittel - besonders teuer.

Nachdem dies in der wahltrunkenen Anhängerschaft der "Linkspartei" keinen hörbaren Aufschrei provoziert hat, zog nun gleich der IG-Metall-Chef Peters nach und forderte in einem Interview (Leipziger Volkszeitung von heute) die SPD auf, die "linke Mehrheit" zu nutzen. Er spielt damit ganz bewußt auf ein bekanntes Wort des frühreren SPD-Kanzlers Willy Brandt von einer linken Mehrheit an. Und der 'spiegel' präsentierte in seiner heutigen online-Ausgabe bereits vier neugewählte Abgeordnete der "Linkspartei", die sich vorstellen könnten, Schröder zum Kanzler zu wählen.

Es ist immer das gleiche Spiel: Die Mainstream-Medien finden mit untrüglichem Gespür die Leute, denen sie nur ein Mikrofon unter die Nase halten müssen, um die erwünschten Äußerungen zu hören - und um so die Politik in die vorgegebene Richtung zu dirigieren.

Ciao
Adriana

 

22.09.05

>35 Prozent der Deutschen sind völlig verblödet<

Hi!

Wir sollten bei diesem Wahlergebnis mal nicht in Euphorie verfallen, nur weil Schwarz-Rot-Gelb-Grün sich noch nicht so recht entscheiden kann, ob sie die Tarnung ganz fallen lassen und als große Koalition - mit verdeckter Unterstützung durch Gelb und Grün - die bisherige Politik fortsetzen oder ob sie das Theater mit verteilten Rollen weiterspielen wollen: Rot-Grün als "kleineres Übel" und "Schwarz-Gelb" als das "große Übel". Immerhin hat diese NED (neoliberale Einheitspartei Deutschlands) auch bei Berücksichtigung der Nicht-WählerInnen und Wahl-BoykotteurInnen zusammen mehr als 68 Prozent der Stimmen bekommen (27,5 + 26,6 + 7,9 + 6,3).

Diese hohe Zustimmung ist nur damit zu erklären, daß wieder einmal sehr viele Menschen auf die "linken Signale" von SPD und Olivgrünen im Wahlkampf hereingefallen sind. Und sicherlich haben sich auch viele von der Vogelscheuche namens Kirchhoff in die Arme von Rot-Grün treiben lassen.

Kaum ein Trost ist es da, daß die SPD trotz des "fulminanten Endspurts" rund 2,4 Millionen Stimmen und die Union rund 1,9 Millionen Stimmen im Vergleich zu 2002 verloren haben. Wenn wir mal davon ausgehen, daß das obere Drittel genau wußte, was es zu wählen hat - nämlich alles außer der Linkspartei, und daß von denen höchsten ein Promille entgegen den eigenen Interessen gewählt hat oder der Wahl aus Faulheit ferngeblieben ist, müssen wir von den oben angegebenen 68 Prozent diese 33 Prozent abziehen und erhalten exakt die Anteil der völlig Verblödeten in Deutschland: 35 Prozent.

Maik

 

22.09.05

Servus

Ich will mich hier ja nicht in Wählerbeschimpfung ergehen, aber nach Umfrageergebnissen liegt Maik mit seinen 35 Prozent noch auf der optimistischen Seite. Laut einer Emnid-Umfrage haben 46 Prozent der SPD-WählerInnen angegeben, daß für sie die "Frage sozialer Gerechtigkeit" entscheidend war. Solche Leute kann die SPD noch 77 mal 7 Jahre bescheißen und die würden nichts dazu lernen.

Kathrin

 

23.09.05
[Demokratie-Diskussion]

Hallo Leute!

Auch in Freiburg gibt es noch einen (mehr oder weniger) selbstverwalteten Betrieb: die Schreinerei Grünspecht. Gegründet wurde sie 1984 und sie existiert seit 1991 in Form einer Genossenschaft - also inzwischen insgesamt über 20 Jahre.

Allerdings haben sich inzwischen doch einige Ideale abgeschliffen. Ursprünglich war das Schreinerei-Projekt als Gegenmodell zu Privateigentum, autoritären Herrschaftsstrukturen und Profitdenken geplant. Und zu Beginn verdienten alle - wie auch in der Anfangszeit der taz - den gleichen Lohn: 1.800 DM brutto im Monat. Wichtig war auch der ökologische Anspruch. Auf giftige Holzschutzmittel und gesundheitlich bedenkliche Dämmstoffe wurde von Anfang an verzichtet und die Öko-Bauweise nach und nach zum Markenzeichen.

Wie in vielen ähnlichen Projekten strapazierte die innerbetriebliche Demokratie auf die Dauer doch sehr die Nerven und die nicht immer beliebig verfügbare Zeit. Jeden Montag traf sich die gesamte Belegschaft, um über anstehende Aufträge oder gemeinsame Probleme zu diskutieren. "Obwohl wir stundenlang redeten, kam es am Ende oft doch zu keinem Entschluß. Wir standen uns manchmal selbst im Weg", meint einer der Mitbegründer, der heute noch mit dabei ist. Seit der Betrieb als Genossenschaft geführt wird, ist auch das Prinzip des Einheitslohns über Bord geworfen worden. MitarbeiterInnen mit Kindern, besserer Ausbildung und höherem Alter bekommen seitdem höhere Löhne. Auch eine Geschäftsleitung wurde eingerichtet, die rasche Entscheidungen ermöglicht, die aber von einem Aufsichtsrat zusammen mit der Mitgliederversammlung der Genossenschaft überwacht wird.

Auch zwischen der Schreinerei Grünspecht und der alternativen Szene in Freiburg kam es zu Spannungen. Als ein Mitarbeiter das Unternehmen verlassen mußte, hieß es, die Zimmerei Grünspecht sei ein Beispiel für den "Niedergang der Alternativbetriebe". Auch das Schimpfwort von "Kapitalistenschweinen" kursierte.

Die Schreinerei Grünspecht überlebte als Genossenschaft die Krise der Bauwirtschaft im Gegensatz zu vielen "Familienbetrieben". Heute beschäftigt sie rund 20 MitarbeiterInnen, die 2003 einen Umsatz von 2,4 Millionen Euro erwirtschafteten. Zwölf GenossInnen bilden die Genossenschaft.

Mehr konnte ich jetzt erst mal nicht in Erfahrung bringen. Wer mehr weiß, kann sich ja melden.

Frank

 

23.09.05

Hier noch ein paar Daten, die dem gestern verbreiteten Pessimismus ein wenig Contra geben:
Laut einer aktuellen Umfrage von Emnid ist das Vertrauen in politische Parteien von 41 Prozent (1995) auf 17 Prozent gesunken. Wenn viele dennoch weiter wählen gehen, dann also nicht unbedingt aus Dummheit, sondern weil sie - bislang - keine Alternative sehen. Weiter heißt es, rund 80 Prozent seien der Ansicht, daß "gegen soziale Mißstände" zu wenig protestiert werde. (Da frage ich mich allerdings, warum sich so wenige an den Montags-Demos beteiligen.) Und laut einer Spiegel-Umfrage erklären 73 Prozent der Ostdeutschen und - immerhin! - 50 Prozent der Westdeutschen, daß die Kritik von Karl Marx am Kapitalismus noch heute Sinn mache.

herzlichen Gruß

Peter K.

 

23.09.05

Hallo Leute!

Ich finde, einige unter denen die sich hier zu Wort gemeldet haben, unterschieben zu Unrecht den NichtwählerInnen pauschal eine Meinungsäußerung. Die meisten sind schlicht desinteressiert. Wer wirklich etwas am System ändern will, muß selbst aktiv werden, demonstrieren, eine Partei gründen, mit den Menschen diskutieren oder ähnliches. Zumindest ist das Nichtwähler-Potential ein Anfang.

tschüss
Michael

 

24.09.05

@Michael

Ich kenne viele Nichtwähler, die jetzt nicht unbedingt hier bei diesem Boykott mitgemacht haben, die aber alles andere als desinteressiert sind. Viele darunter wollen ganz entschieden, daß der Kapitalismus überwunden wird oder daß zumindest auf irgendeine Art eine wirkliche Demokratie aufgebaut wird. Sie machen sich aber keine Illusionen, daß das mit der Gründung einer neuen Partei zu bewerkstelligen wäre. Und sie sind ganz einfach nicht mehr bereit, der politischen Klasse alle paar Jahre die Legitimation zu geben, uns nach Strich und Faden zu verarschen!

ciao
Marianne Lescovic

 

24.09.05

Hallo Leute!

Wenn doch immer noch so viele zur Bundestagswahl gingen, hat das sicherlich auch seinen Grund in der Manipulation durch die Medien. Die Menschen haben zum Beispiel wahrgenommen, daß seit Ende letzten Jahres, Anfang dieses Jahres fast alle Medien umgeschwenkt sind und Rot-Grün "nieder geschrieben" haben. Was sie darüber allerdings nicht gemerkt haben, ist: Die gesamte neoliberale Ausrichtung der Medien hat sich dabei überhaupt nicht geändert. An sehr vielen Stammtischen war davon die Rede, daß mit diesem Schwenk zu Schwarz-Gelb sichtbar würde, daß die Medien von der Wirtschaft abhängen. Das hat dann als Gegenreaktion zum relativen Wahlerfolg von Rot-Grün beigetragen. Wahrscheinlich würden die Leute erst dann merken, was hierzulande gespielt wird, wenn Rot-Grün noch ein paar Jahre Sozialabbau betreiben, den Atomausstieg weiter hinausschieben und die nächsten Kriege führen würde...

Gruß
Tatjana

 

 

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