WAHLBOYKOTT
2005

Diskussions-Seite

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Um die Diskussion übersichtlich zu halten, haben wir inzwischen für jede Woche eine eigene Unter-Seite eingerichtet. Die Unter-Seiten sind jeweils über eine Navigations-Leiste am oberen und unteren Ende erreichbar.


25.07.05

Guten Tag!

Ich kann nicht verstehen, daß in fast allen hier veröffentlichten Diskussionsbeiträgen mehr oder weniger unausgesprochen davon ausgegangen wird, daß die Politik der rot-grünen Koalition in den letzten acht Jahren nichts Positives gebracht hätte. Manche behaupten sogar, es sei schlimmer als unter Kohl gewesen. Da kann ich nur vermuten, daß sie wohl noch zu jung sind, um die Jahre von 1983 bis 1998 bewußt erlebt zu haben.

Die ganzen utopischen Beiträge die von einer Abschaffung des Parlamentarismus ausgehen, will ich ja nicht verdammen. Es ist ganz interessant, sich darüber Gedanken zu machen. Es muß doch aber klar sein, daß die heutige Form der Politik noch für einige Jahre bestehen bleibt und daß uns solange nichts anderes übrig bleibt, als das "kleinere Übel" zu wählen. Alles andere erachte ich für destruktiv, denn es trägt dazu bei, daß Frau Merkel Kanzlerin wird. Und um meinerseits einen historischen vergleich heranzuziehen: Dann wird es so düster in Deutschland wie in der Ära von Margaret Thatcher in Großbritannien.

Mit freundlichen Grüßen
Reinhard ...

 

26.07.05

Hallo Reinhard!

Folgendes sind nur meine persönlichen Einschätzungen und sie müssen sich nicht mit denen der anderen DiskussionsteilnehmerInnen decken. Ich selbst bin bereits über drei Jahrzehnte politisch aktiv und habe die Politik der Bundeskanzler Brandt und Schmidt politisch bewußt miterleben und erleiden dürfen. Die sechzehn Jahre unter Kanzler Kohl und die sieben Jahre unter Kanzler Schröder meine ich daher einigermaßen einordnen zu können.

Ich habe bereits 2002 in einem Artikel eine ausführliche Bilanz der ersten vier Jahre "Rot-Grün" gezogen (www.netzwerk-regenbogen.de/bilanz020512.html). Es wird allgemein kaum angezweifelt, daß die Bilanz der letzten drei Jahre noch schlechter ausfällt. Ich werde in den folgenden Abschnitten daher nur auf einige Schwerpunkte eingehen. Ihre Argumentation ist für Verteidiger der "rot-grünen" Politik typisch: Eine Beurteilung, ob sich die Lage - ob in wirtschaftlicher, ökologischer oder sozialer Hinsicht oder unter welchem Blickwinkel auch immer - verbessert hat oder verschlechtert hat, wird vermieden. Statt dessen wird ein "relativer Maßstab" angelegt und ein virtueller Vergleich mit einer nicht existierenden, sondern nur aus deren politischer Propaganda hypothetisch hergeleiteten Politik einer "schwarz-gelben" Koalition gezogen. Es ist immer möglich, den Teufel an die Wand zu malen und damit die realen Zustände als "geringeres Übel" zu verharmlosen.

Sie schreiben, es werde hier "mehr oder weniger unausgesprochen davon ausgegangen wird, daß die Politik der rot-grünen Koalition in den letzten acht Jahren nichts Positives gebracht hätte." Es wird wohl von keiner und keinem der bisherigen DiskussionsteilnehmerInnen geleugnet, daß beispielsweise der Ausbau der Windenergie in Deutschland als positiv zu werten ist. Doch auch während der Zeit der Kohl-Regierung gab es einige Alibi-Maßnahmen, die isoliert betrachtet als positiv zu werten sind: So schwamm "Umwelt"-Minister Töpfer einst publicity-wirksam durch den Rhein, um damit auf die - reale - Verbesserung der Wasserqualität der Flüsse hinzuweisen. Um jedoch das Gewicht einzelner Maßnahmen zu bemessen, müssen sie im Gesamtzusammenhang gewertet werden: Der Ausbau der alternativen Energien insgesamt ist viel zu gering, als daß damit eine Trendwende beim Kohlendioxid-Ausstoß erreicht worden wäre. Entgegen aller regierungsamtlichen Propaganda ist die Kohlendioxid-Bilanz Deutschlands weiter negativ. Blockheizkraftwerke, mit denen ein Durchbruch erreicht werden könnte, werden weiterhin blockiert und der Energiemarkt in Deutschland wird nach wie vor von den vier großen Konzernen RWE, E.on, Vattenfall und EnBW beherrscht. Eine nüchterne Bilanz zeigt, daß sich die Lage in den letzten sieben Jahren im Vergleich zur Ära Kohl in jeder Hinsicht weiter und weiter verschlechtert hat.

Hilmar Kopper, der nicht mehr ganz junge frühere Aufsichtsrat bei DaimlerChrysler und Deutscher Bank plauderte 1999 einmal unvorsichtig aus dem Nähkästchen: "Wenn Sie mich vor anderthalb Jahren gefragt hätten, ob ich mir eine aktive Beteiligung der Bundesregierung auf dem Balkan unter rot-grüner Beteiligung vorstellen könnte, dann hätte ich Sie für nicht recht gescheit gehalten. Genauso aber kam es. Und es konnte nur von der rot-grünen Regierung kommen, sonst hätten wir in diesem Land eine Revolution gehabt. Ähnliches gilt wohl auch für die Veränderung des Sozialstaates. Wahrscheinlich müssen die heiligen Kühe von denen geschlachtet werden, die an ihrer Aufzucht am aktivsten beteiligt waren."

Es ist kaum zu bestreiten, daß eine "schwarz-gelben" Koalition zumindest größere Schwierigkeiten gehabt hätte, die "rot-grüne" Politik der letzten sieben Jahre durchzusetzen. So war der gegenüber der Vorgänger-Regierung forcierte Sozialabbau von "Rot-Grün" nicht zuletzt deshalb leichter durchzusetzen, weil die Gewerkschaften mit ihrer traditionellen Bindung an die SPD und der Verfilzung der oberen Funktionärsebene mit der Sozialdemokratie eingebunden und an die Kandare genommen werden konnten.

Häufig wird der Eindruck erweckt, es gehe bei der anstehenden Bundestagswahl um die Alternative zwischen zwei verschieden großen Übeln. Mit der Drohung eines "Ausstiegs aus dem Atomausstieg" wird versucht, AKW-GegnerInnen wieder ins Lager von "Rot-Grün" zurück zu treiben.

In den letzten sieben Jahren wurden zwei AKWs vom Netz genommen: das von den Betreiberfirmen bereits vor 1998 als unrentabel bezeichnete AKW Stade und das älteste deutsche AKW Obrigheim. Atom-Minister Trittin rechnet sich zwar die Abschaltung von drei AKW "nach dem Atom- Ausstiegsbeschluß" zu gute und reklamiert die "endgültige" Stillegung des AKW Mülheim-Kärlich als seinen Erfolg. Mülheim-Kärlich wurde jedoch bereits 1988 - also zehn Jahre vor Beginn der "rot-grünen" Regierung per Gerichtsbeschluß abgeschaltet.

Das AKW Stade, dessen Abschaltung Trittin im November 2003 mit einem Sekt-Empfang zelebrierte, wurde wegen der Schein-Verhandlungen um den "Atomausstieg" entgegen der sonst allein ausschlaggebenden Profit-Interessen länger als vorgesehen betrieben. Und auch die Abschaltung des 1968 in Betrieb genommene AKW Obrigheim stellt keinen "Erfolg" dar. Ursprünglich waren alle deutschen AKWs für eine Laufzeit von 25 Jahren konzipiert. Jedes Jahr, in welchem das AKW Obrigheim während der Amtszeit von Trittin weiterbetrieben wurde, geht somit voll zu Lasten seiner "Verantwortlichkeit" - oder besser: Verantwortungslosigkeit.

Frecher weise behauptet Trittin immer wieder, "auch mit dem Atomausstieg" eine Vorreiter-Rolle in Europa zu spielen. Allzu wenige Menschen wissen, daß beispielsweise ein Atomausstieg 1978 in Österreich oder 1987 in Italien real vollzogen wurde: Mehrere AKWs wurden abgeschaltet und rückgebaut und der Bau eines AKWs gestoppt. In die Amtszeit Trittins fällt dagegen der Neubau einer AKWs, der "Forschungs"- Reaktors FRM 2 in Garching, mit dem erstmals waffenfähiges Uran in Deutschland produziert wird. Die Urananreicherungsanlage in Gronau wurde auf ein Vielfaches ihrer Kapazität ausgebaut, so daß nun über den Bedarf deutscher AKWs hinaus auch exportiert werden kann.

Nun wird versucht, den Menschen Angst zu machen vor einem "Ausstieg aus dem Atomausstieg". Damit wird auf die Propaganda von "Schwarz-Gelb" Bezug genommen, sich für eine unbefristete Verlängerung der AKW-Laufzeiten einzusetzen. Doch bereits jetzt existieren keine "befristeten" AKW-Laufzeiten. Solange kein konkreter Abschalt-Termin innerhalb der laufenden Legislaturperiode festgesetzt ist, sind die Laufzeiten unbefristet.

Wer sich statt an Propaganda und Partei-Programme an die Realität hält, ist sich darüber klar, daß AKW-Laufzeiten, die von irgendwelchen PolitikerInnen beschlossen werden, nichts Wert sind. Ein Blick nach Schweden, wo schon seit 1986 einige Male ein Atomausstieg beschlossen und doch wieder verschoben wurde, kann dies belegen.

Auch einer "schwarz-gelben" Koalition dürfte es recht schwer fallen, die vier Energie-Konzerne RWE, E.on, Vattenfall und EnBW davon zu überzeugen, daß es wieder profitträchtig sei, in einen AKW-Neubau in Deutschland zu investieren. Seit 1986 sind keine neuen kommerziellen AKWs in Deutschland beantragt worden. (Und 1989 ging mit Block 2 des AKW Neckarwestheim der letzte vor 1986 beantragte Reaktor ans Netz.) Als G.W. Bush 2000 zur US-Präsidentschaftswahl antrat, versprach er, den Bau von AKWs voranzubringen. Seitdem sind fünf Jahre vergangen - und wieviele AKWs in den USA gebaut worden? 1973 wurde in den USA der letzte Bau-Antrag für ein AKW in den USA eingereicht...

Es sollte auch nicht vergessen werden, daß Frau Merkel als "Umwelt"-/Atom-Ministerin gezwungen werden konnte, die CASTOR-Transporte zu stoppen. Unter Trittin wurden sie wieder aufgenommen.

Ciao
Klaus

 

28.07.05
[Demokratie-Diskussion]

Hey Leute

Ich bin noch unentschlossen und schwanke zwischen einer Wahl der neuen Linkspartei und eurem Boykott. Auch mit der Wahl der Linkspartei boykottiere ich gewissermassen die deutsche Einheitspartei SPCUDPÜBEL. Allerdings ist mir durchaus klar, dass mit der Orientierung auf die Linkspartei als neue Hoffnungsträgerin der Wahn bestärkt wird, im Kapitalismus könne mit einer "anderen" Politik irgendetwas in positive Richtung bewegt werden. So jedenfalls verstehe ich den Satz in eurem Aufruf "Wer wählt, gibt dem seinen Segen".

Was mir die Entscheidung ein bisschen erleichtern könnte, wäre ein Hinweis darauf, wie ihr euch denn eine Gesellschaft jenseits der Kapitalismus vorstellt. Dass ihr einen Sozialismus nach dem Vorbild der früheren Sowjetstaaten ablehnt, wird in euren Diskussionsbeiträgen mehr oder weniger deutlich. Mir scheint ein grundlegendes Problem zu sein, wie denn Demokratie organisiert werden könnte. Nur der Mangel an Demokratie ermöglicht es hierzulande, dass die Interessen der Wirtschaft und der grossen Konzerne mehr wiegen als die Interessen der Mehrheit - und derselbe Mangel ermöglichte es, dass in den Sowjetstaaten nicht die ursprünglich geplanten Sowjets, also Räteversammlungen, die Macht hatten, sondern sich Stalin als Diktator durchsetzen konnte und später kleine Bürokratenzirkel die Mehrheit unterdrückten.

Was habt ihr da für Vorschläge?

Gruss
Petra

 

29.07.05
[Demokratie-Diskussion]

Hallo Petra!

Ich muß Dich leider ein wenig enttäuschen und ich spreche dabei im Namen aller InitiatorInnen des 'Wahlboykott 2005'. Wir kommen aus verschiedenen Gruppen und haben uns im Sinne eines Minimalkonsens auf die politischen Positionen geeinigt wie sie im Aufruftext wiedergegeben sind. Diese Beschränkung hat nichts damit zu tun, daß wir uns beispielsweise in Hinsicht auf das von Dir angesprochene Problem, wie "Demokratie organisiert werden könnte", nicht zumindest auf einige grundlegende Prinzipien verständigen könnten. In der Hauptsache hat diese Beschränkung auf einen Minimalkonsens zwei Gründe:

Erstens möchten wir mit diesem Aufruf und der damit verknüpften Boykott-Aktion etwas erreichen. Mit den drei politischen Themen Sozialabbau, vorgespiegelter Atomausstieg und Kriegspolitik läßt sich nach unserer Einschätzung am ehesten aufzeigen, wie sehr Anspruch und Wirklichkeit der gegenwärtigen Politik auseinanderklaffen. Das Bewußtsein dieser Widersprüche ist zwar bei einer Mehrheit der Deutschen latent vorhanden, wird jedoch gerade jetzt in der Zeit des Wahlkampfs massiv in den Hintergrund gedrängt.

Zweitens wollen wir mit Absicht nicht zuviel vorgeben. Gerade wer Demokratie ernst nimmt, sollte sich davor hüten, anderen fertige Rezepte vorsetzen zu wollen. Demokratie lebt von der Diskussion. Hier in Deutschland wird viel zu wenig in der Öffentlichkeit politisch diskutiert - und wenn, dann oft auf einem erschreckend niedrigen Niveau. Die Menschen müssen sich selbst erst mal für dieses Thema interessieren und ihre eigenen Lösungsvorschläge in der Diskussion entwickeln, wie "Demokratie organisiert werden könnte". Nur so kann sich Demokratie entwickeln. Das funktioniert nicht mit Menschen, die nicht an Politik interessiert sind.

Aber ein erster Schritt dahin, daß sich Menschen wieder für Politik interessieren, für wirkliche Politik und nicht den Parteien-Zirkus, setzt voraus, daß erst mal einige Illusionen durchbrochen werden. Damit meine ich, daß vorrangig die Illusion durchbrochen werden muß, daß es sich hierzulande um eine wirkliche Demokratie handelt. Und es setzt zudem voraus, daß die Illusion durchbrochen wird, ohne grundlegende ökonomische Veränderungen könne Demokratie organisiert werden.

solidarische Grüße
Ute

 

 

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Kontakt:
Klaus Schramm

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