WAHLBOYKOTT
2005

Diskussions-Seite

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Um die Diskussion übersichtlich zu halten, haben wir inzwischen für jede Woche eine eigene Unter-Seite eingerichtet. Die Unter-Seiten sind jeweils über eine Navigations-Leiste am oberen und unteren Ende erreichbar.


18.07.05

Hallo Leute!

Noch unter Wilhelm I. schenkte Bismarck 1884 das Reichstagsgebäude "dem deutschen Volke" (so die Inschrift über dem Portal). Auch die ab 1881 von Bismarck eingeführte Sozialversicherung wird heute vielfach dessen Großzügigkeit zugeschrieben. Das Motiv Bismarcks war jedoch, damit die "gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie" aufzuhalten. Er wollte die Arbeiterklasse spalten, einen Teil an die Obrigkeit binden und so die damals marxistische und staatsfeindliche Sozialdemokratie, die er zugleich mit den "Sozialistengesetzen" seit 1878 bekämpfte, weiter schwächen.

Reichstag und Sozialversicherung waren Danaergeschenke, mit denen Bismarck weitgehend seine Ziele durchsetzen konnte. Sie trugen auch 1914 wesentlich dazu bei, daß der Erste Weltkrieg nicht durch die SPD verhindert wurde. Unter dem Schlagwort vom "Burgfrieden" stimmte sie den Kriegskrediten zu und unterdrückte zusammen mit der Gewerkschaftsführung die gegen den Kriegsbeginn gerichteten Massenstreiks. Vor diesem Hintergrund erst wird verständlich, warum die Kommunistische Arbeiterpartei 1920 zum Wahlboykott aufrief. Auf ihren Plakaten hieß es damals:

  • Der Parlamentarismus schafft die Allmacht des Bonzentums über das Proletariat und führt immer zum Burgfrieden mit der Bourgeoisie
  • Der Parlamentarismus schläfert die Arbeiter ein in Führerglauben und schafft Passivität
  • Der Parlamentarismus ist die demokratische Kulisse für die Herrschaft des Kapitals

solidarische Grüße
Sven

 

19.07.05

An Sven und an Paul:

Zur geschichtsstunde von Sven möchte ich anmerken, daß dies ja alles so gewesen sein kann - meinetwegen! Aber anscheindend haben viele immer noch nicht begriffen, daß wir heute schon lange kein Proletariat im damaligen Sinne mehr haben. Die Linke muß bündnisfähig sein bis in weite Kreise der Mittelschichten, um aus ihrer Isolation herauszukommen. Dabei hilft keine Klassenkampf-Rhetorik!

Und Paul möchte ich antworten, daß eine Partei sehr wohl die Möglichkeit hat, Mitglieder auszuschließen, die im Parlament nicht mehr die Interessen derer vertreten, die sie gewählt haben. Und als zweites kann Druck auf korrumpierte ParlamentarierInnen ausgeübt werden, indem ihnen von der Basis klar gemacht wird, daß sie bei der nächsten Wahl nicht wieder aufgestellt werden. Eine politisch erfahrene Parteibasis hat damit ausreichend Druckmittel!

mit solidarischen Grüßen
Edith

 

20.07.05

Hallo Edith, hallo Sven!

Edith meint, mit Parteiausschluß oder mit der Drohung, bei der folgenden Bundestagswahl nicht wieder gewählt zu werden, könne ausreichend Druck auf Abgeordnete ausgeübt werden. Offenbar ist sie davon überzeugt, daß dies den gewaltigen Druck von der Gegenseite ausgleichen könnte. Sie übersieht dabei den Zeitfaktor und die Dynamik, die durch den Anpassungsprozeß zugleich auf die Parteibasis wirkt: Erstens kann auch ein Parteiausschluß nichts daran ändern, daß der betreffende Abgeordnete über die volle Dauer der Legislaturperiode im Bundestag verbleiben kann. Dabei ist damit zu rechnen, daß er in den Medien als Märtyrer dargestellt wird und seine politische Position um so mehr hochgejubelt wird. Zweitens ist damit zu rechnen, daß - wie üblich - scheibchenweise vorgegangen wird, so daß nicht sofort ein Anlaß für eine solch gravierende Disziplinierungsmaßnahme wie ein Parteiausschluß möglich ist. Solche schleichenden Verschiebungen der politischen Positionen der Abgeordneten und deren Flankierung durch wohlwollende Berichterstattung, hat jedoch nach und nach eine Anpassung der Positionen an der Parteibasis zu folge - und sei es durch neu hinzukommende Mitglieder. Es ist tatsächlich sinnvoll, sich anzuschauen, warum dieses Spiel, bei dem sich die eine Seite von vornherein in eine unterlegene Position begibt, in der Vergangenheit immer zum so leicht vorhersehbaren Ergebnis geführt hat. Da hilft eben keine "politisch erfahrene Basis" - diese hat offenbar keine Erfahrung, wenn sie sich auf dieses Spiel einläßt.

Sven stimme ich allerdings nur in Hinblick auf den Parlamentarismus zu. Dieser ist auch nicht von den Sozialdemokraten angestrebt worden und Friedrich Engels hat gegen Ende seines Lebens einige sehr kritische Anmerkungen zu dessen Auswirkungen auf die Entwicklung der SPD geschrieben. Bei der durch Bismarck eingeführten Sozialversicherung, der 1883 eingeführten Krankenversicherung, der 1884 eingeführten Unfallversicherung und der 1889 eingeführten Invaliden- und Altersversicherung handelt es sich dagegen keinesfalls um Geschenke, da Bismarck hier dem Druck des Proletariats partiell nachgegeben hat. Die Motivation war sicherlich im einen wie im anderen Fall die Verabreichung von "Zuckerbrot". Dennoch war die Verbesserung der sozialen Lage eine legitime Forderung des Proletariats und das schrittweise Nachgeben Bismarcks hatte keinesfalls zwangsläufig die Einbindung des Proletariats in den Kapitalismus zur Folge. Es ist ein Trugschluß anzunehmen, nur ein hungerndes Proletariat sei zu Umsturz oder Revolution bereit. Wesentlich ist hier jedoch, ob es sich in eine nationale Politik einbinden läßt oder ob es die internationalistische Perspektive bewahrt. Genau hierin liegt das Versagen der Führung der SPD - nicht der gesamten Sozialdemokratie - begründet. Die Massenstreiks noch im Juni und Juli 1914 zeigten, daß das deutsche Proletariat bereit und in der Lage gewesen wäre, den langer Hand vorbereiteten Krieg zu verhindern.

Selbstverständlich geht es bei einer solchen Analyse vergangener politischer Entwicklungen nicht darum, dies eins zu eins übertragen zu können. Und selbstverständlich kann heute nicht mehr von einem Proletariat die Rede sein. Wenn sich allerdings die Führung einer Massenpartei wie es die Sozialdemokratie als alleinige Vertreterin der Arbeiterklasse bis zum Ersten Weltkrieg war, manipulieren ließ, um wieviel einfacher und schneller wird dies dann bei einer so heterogenen Partei wie der neuen Linkspartei vonstatten gehen, zumal ein großer Teil der aus der PDS stammenden Funktionäre bereits heute keine gesellschaftliche Veränderung mehr wünscht, sondern nur noch Teilhabe an Ämtern und Pfründen.

Mit solidarischen Grüßen
Paul

 

21.07.05

Liebe Freunde,

hier einige grundsätzliche Überlegungen:

Parlamentarismus und "repräsentative Demokratie" sind nicht etwa geschaffen worden, um eine "praktikable" Form der Demokratie einzuführen. Die Motive, die Sven in seinem Diskussionsbeitrag vom 18.07. Bismarck unterstellt, treffen nur teilweise zu. Der Parlamentarismus war keine Erfindung Bismarcks. Parlamente wurden bereits zur Zeit Machiavellis im 16. Jahrhundert zur Absicherung der Fürstenherrschaft eingesetzt. Machiavelli schreibt dazu in seinem bekannten Werk "Il Principe": "Die wohlgeordneten Staaten und klugen Fürsten haben mit aller Sorgfalt darauf hingearbeitet, die Mächtigen nicht in Verzweiflung zu bringen und das Volk zufriedenzustellen: eine der Hauptaufgaben des Fürsten. Zu den wohlgeordneten und gutregierten Staaten in unserer Zeit gehört Frankreich. Es gibt in ihm zahllose gute Verfassungseinrichtungen, auf denen die Freiheit und die Sicherheit des Königs beruht; an erster Stelle steht das Parlament und sein Ansehen; (...)"

Die Lektüre Machiavellis ist auch heute noch allen sehr empfehlenswert, die begreifen wollen, wie Macht funktioniert - sei es, um sie effektiv auszuüben, sei es, um sie abzuschaffen zu können.

So wollte Bismarck sicherlich in erster Linie die Freiheit und Sicherheit des Adels mit Hilfe des Parlaments absichern. Erst in zweiter Linie paktierte er mit Teilen des Bürgertums - als kleinerem Übel - , um die Freiheit und die Interessen der Mehrheit, des Proletariats, einzudämmen. Nachdem das Bürgertum in Deutschland gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Macht weitgehend vom leicht manipulierbaren Wilhelm II. übernommen hatte, übernahm es zugleich den Parlamentarismus als Machtinstrument.

Ich stimme Edith zu, daß es heute keinen Sinn macht, von einem Proletariat zu reden. Die unteren Schichten dieser Gesellschaft sind dazu viel zu inhomogen. Auch der Versuch, das Proletariat formal über den Begriff "abhängig Beschäftigte" wiederzubeleben, geht an den gesellschaftlichen Realitäten vorbei. Allerdings treibt seit Mitte der siebziger Jahre vieles in Richtung auf eine Neuformierung eines Proletariats. In Folge der sich in den letzten Jahrzehnten etablierenden neoliberalen Politik der Staaten der G8 wurde der Abbau von sozialen Rechten immer stärker vorangetrieben. Auch der - in sich sehr inhomogne - Mittelstand ist weit überwiegend Verlierer in dieser Entwicklung. So sind objektiv die Interessen der gesamten unteren Zweidrittel identisch: Verhinderung der weiteren Umverteilung von unten nach oben.

Bevor diese Interessen jedoch subjektiv wahrgenommen werden und sich äußern können, muß das systematisch gepflegte Bewußtsein des "Wir können ja doch nichts ändern" durchbrochen werden. Die Menschen lechzen geradezu danach, daß ihnen eine Lösung serviert wird, die ihnen eine Perspektive bietet und damit erlaubt, den Fatalismus aufzugeben. Jede von einer wie auch immer gearteten Partei versprochene Lösung kann dabei allerdings nur eine Scheinlösung sein. Wie schon in verschiedenen Diskussionsbeiträgen auf diesen Seiten geschrieben wurde: Es gibt kein "Primat der Politik über die Ökonomie". Jede versprochene politische (Teil-)Lösung ist beim heutigen Entwicklungsstand des Kapitalismus und beim nicht erst gestern zustande gekommenen Ungleichgewicht zwischen Kapital und Arbeit ein ungedeckter Wechsel.

Mit der großen Bedeutung, die Wahlkämpfen und den Prozentzahlen bei der "Sonntagsfrage" beigemessen wird, vergeudet jede Partei für enorme Zeit die Kräfte der "Wasserträger", die an der Basis die Hauptarbeit der Wahlkämpfe leisten und zugleich riesige finanzielle Mittel, die zwar von der Gesellschaft in Form der Wahlkampflostenrückerstattung weitgehend getragen werden müssen, denen jedoch kein Informationsgewinn gegenübersteht. Auch bei "linken" Parteien wird darüber die eigentliche politische Arbeit vernachlässigt und die Parteiorganisation nimmt einen technischen und bürokratischen Charakter an.

Die mit Inhalten verknüpfte Wahlboykott-Initiative bietet dagegen die Chance, daß Menschen, die daran teilnehmen, ihre Illusionen durchbrechen können, über bessere Gesetze oder Steuern ließe sich etwas zu ihren Gunsten ändern. Demokratie läßt sich nur dann verwirklichen, wenn die Menschen begreifen, daß Politik ähnlich existentiell ist wie Ernährung, Fortbewegung oder Unterkunft. Jeder Mensch handelt unweigerlich politisch: Wer Politik an die "Kaste" der Berufspolitiker delegiert, handelt allerdings in der überwiegenden Zahl der Fälle entgegen den eigenen Interessen. Solange es Berufspolitiker gibt, solange werden auch die bestehenden gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse fortbestehen.

herzliche Grüße
Jochen

 

 

Über weitere Diskussionsbeiträge würden wir uns freuen. Sie werden auf diesen Seiten veröffentlicht.

Kontakt:
Klaus Schramm

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