WAHLBOYKOTT
2005

Diskussions-Seite

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Um die Diskussion übersichtlich zu halten, haben wir inzwischen für jede Woche eine eigene Unter-Seite eingerichtet. Die Unter-Seiten sind jeweils über eine Navigations-Leiste am oberen und unteren Ende erreichbar.


1.07.05

A schrieb:
> Wahlboykott hilft nur den rechten
> Splittergruppen. Wer gegen Demokratie
> ist, sollte wenigstens so anständig sein,
> ungültig zu wählen.

Hallo A

Ich muß erst mal versuchen Deine Argumente zu interpretieren, um sie beantworten zu können. Mit Deinem ersten Argument meinst Du vermutlich, daß die "rechten Splittergruppen" in Folge eines Wahlboykotts einen höheres prozentuales Ergebnis bekommen könnten. Und vermutlich meinst Du mit "rechten Splittergruppen" auch nicht die SPD - das wäre allerdings gar nicht so abwegig: Schließlich betreibt sie seit Jahren eine rechte Politik und sie bekam bei der Landtagswahl am 19.09.04 in Sachsen (real berechnet) 5,8 Prozent.*

Tatsächlich mußt Du unausgesprochen zwei Faktoren in Rechnung stellen, um zu Deiner Behauptung zu kommen:
1. Ein Wahlboykott würde einer linken Partei, die dann tatsächlich auch im nächsten Bundestag vertreten wäre, Stimmen entziehen.
2. Bei einer Verringerung der Stimmen für diese linke Partei, sinkt die Wahlbeteiligung und damit wächst das prozentuale Ergebnis rechter Parteien auch wenn sie real keine Stimmen dazu gewinnen.

Darin stecken einige Unwägbarkeiten, aber mal angenommen, das würde so zutreffen: Was nützt es beispielsweise der NPD, ob sie 6 oder 12 Prozent bekommt? Die Erfahrung mit diesen neo-faschistischen Parteien in manchen Landtagen hat gezeigt, daß ihnen das gar nichts nutzt. Bei den letzten Landtagswahlen in SWH und in NRW sind sie trotz Bündnispolitik (NPD - DVU - Neo-Nazis) kläglich gescheitert. Von der Antifa wurde die Gefahr, die von diesen Kleinparteien ausgeht, doch regelmäßig überbewertet. Eine weit größere Gefahr stellen ausländerfeindliche Instant-Parteien wie die Schill-Partei kurzzeitig in Hamburg oder die Pim-Fortuyn-Liste in Holland dar. Aber auch dem ist nicht durch Wählen oder Aktionismus beizukommen, sondern hauptsächlich dadurch, daß wir die Heuchelei, den offiziellen "Antifaschismus" von "Schwarz-Rot-Gelb-Grün" und deren gleichzeitige Ausländerfeindlichkeit, bloßstellen.

Die Behauptung, daß also ein Wahlboykott - Deine unausgesprochenen Schlußfolgerungen vorausgesetzt - mit einer prozentualen "Höherbewertung" von NPD oder DVU diesen "hilft", erscheint mir unbegründet.

Und auch die beiden Schlußfolgerungen sind wenig plausibel:

1. Wenn wir mal "Schwarz-Rot-Gelb-Grün" beiseite lassen, kann es sich ja wohl nur um die Frage drehen, ob Menschen, die mit dem Gedanken spielen, die WASG-PDS-Liste zu wählen, durch uns davon abgehalten werden. Viele machen sich aber auch ganz unabhängig von unseren Argumenten darüber Gedanken, ob tatsächlich ein Einzug dieser Liste in den Bundestag der Linken nutzt - oder nicht etwa mehr schadet. Dabei spielen beispielsweise - wie wir in täglichen Diskussionen und durch Zuschriften erfahren - Äußerungen von Lafontaine und Gysi eine entscheidende Rolle, die aktuell eine Tolerierung von "Rot-Grün" im nächsten Bundestag immer wahrscheinlicher machen. Und auch wenn es den von uns initiierten Wahlboykott nicht gäbe, würden sich all jene, für die WASG und PDS keine glaubwürdige Alternative darstellen, eben schlicht fürs Nicht-Wählen entscheiden. Letztlich kommt es darauf an, auf Grund welcher Argumente sich die Menschen entscheiden - und nicht, woher diese Argumente stammen.
Und die Vorstellung, Menschen ließen sich quasi zum Wahlboykott verführen, obwohl sie "eigentlich" doch eher die WASG-PDS-Liste gewählt hätten, paßt doch eher zu einer vor-aufklärerischen Auffassung von Politik.

2. Auch Anstieg oder Sinken der Wahlbeteiligung steht nicht in einem direkten Zusammenhang mit Erfolg oder Mißerfolg der WASG-PDS-Liste. Wie beispielsweise die beiden Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg gezeigt haben, "nutzte" eine geringe Wahlbeteiligung sowohl der PDS wie auch NPD oder DVU. Kann dagegen die realexistierende Einheitspartei einen "Lagerwahlkampf" zwischen Rot-Grün und Schwarz-Gelb inszenieren und damit nicht vorhandene Unterschiede glaubwürdig machen, steigt die Wahlbeteiligung und sowohl für dieWASG-PDS-Liste als auch für die "rechten Splittergruppen" wächst das Risiko an der 5-Prozent-Hürde zu scheitern...

Ziemlich unverständlich erscheint mir Deine Äußerung "gegen Demokratie". Zum einen sind uns mal ein paar Leute bei der Vorbereitung der Wahlboykott-Aktion zur Bundestagswahl 2002 untergekommen, die ernsthaft so argumentierten: "Da das parlamentarische Herrschaftssystem sich Demokratie nennt, müssen wir ehrlich zugeben, daß wir gegen Demokratie sind." Ich halte das für absurd. Wenn "Schwarz-Rot-Gelb-Grün" vorgibt, sich für die Natur einzusetzen, müssen wir uns dann etwa "gegen die Natur" aussprechen?
Eine andere Erklärung wäre, daß Du tatsächlich für irgendeine Form von Diktatur bist - aber diese Möglichkeit lasse ich hier mal beiseite.
Und auch mal abgesehen von Deinem merkwürdigen Begriff von "Anstand", begibst Du Dich in einen absurden Widerspruch: Ist das Sinken der Wahlbeteiligung aus Deiner Sicht nun ein Zeichen von wachsendem demokratischem Bewußsein (das, was Du vermutlich als "gegen die Demokratie" sein bezeichnen würdest) oder bist Du tatsächlich für Ungültig-Wählen und damit eine Steigerung der Wahlbeteiligung?

* Bei 40,4 Prozent Nicht-WählerInnen war das offizielle Wahlergebnis bei der Landtagswahl am 19.09.04 in Sachsen:
Wahlbeteiligung: 59,6 %
SPD: 9,8 %
Bei der ebenfalls am 19.09. veranstalteten Landtagswahl in Brandenburg waren die Ergebnisse für die Herrschenden ungefiltert betrachtet auch nicht sehr erfreulich:
NichtwählerInnen: 43,6 % (Wahlbet.: 56,4 %)
SPD: 18 % (offiziell: 31,9 %) CDU: 10,9 % (offiziell: 19,4 %)

Solidarische Grüße
Bernd

 

2.07.05

Liebe Freundinnen und Freunde von der Wahlboykott-Initiative!

Ich finde es eigentlich nicht so gut, daß ihr das Thema Sozialabbau mit in den Aufruf genommen habt. Nicht, daß ich etwa die Verschlechterung der Lage der unteren Schichten gutheißen würde, aber ihr habt es an die erste Stelle gesetzt und aus meiner Sicht ist es gegenüber solch existentiellen Themen wie Atomenergie und Atombomben, Aufrüstung und offen geplanten und gegenwärtigen (!) deutschen Kriegseinsätzen zweitrangig. Dennoch werde ich mich auch diesmal an eurem Wahlboykott beteiligen!

Zum Thema Sozialabbau noch eins: Gegenüber dem, was unsere Konzerne und unsere Regierungen mit den "unteren Zweidrittel" weltweit anstellen, ist die Situation in Deutschland doch harmlos. Wir jammern auf recht hohem Niveau!

herzliche Grüße
L...

 

3.07.05

Hallo L....!

Wir können Dich sehr gut verstehen und wir haben genau über diese Fragen schon im März und April diskutiert. Die Reihenfolge der Themen im Aufruf bedeutet keinesfalls eine Gewichtung. Wir könnten alle noch mindestens ein Dutzend Themen nennen, die ebenfalls die eine oder der andere als wichtig für den Aufruf angesehen hat. Schade, daß Du bei den Diskussionen nicht dabei sein konntest!

Wie hier schon an anderer Stelle von Solveig dargelegt wurde, haben wir die drei Themen deshalb für den Aufruf ausgewählt, weil mit ihnen am deutlichsten der Gegensatz zwischen den Versprechen, mit denen "Rot-Grün" angetreten war, und deren realer Politik offen gelegt werden kann.

Ciao
Die Initiativ-Gruppe

 

5.07.05

An die Initiatoren der Wahlboykott-Kampagne!

Ich finde, daß bei der üblen Kampagne gegen Oskar Lafontaine dieser einmal selbst zu Wort kommen sollte. Bin mal gespannt, ob ihr den Mut habt das heutige Interview aus der Frankfurter Rundschau auf euren Seiten zu veröffentlichen.

mfg
H...

"Wir überlassen Hartz IV nicht den Rechten"
Der ehemalige SPD-Chef Oskar Lafontaine über die Absicht seiner neuen Linkspartei, der NPD Konkurrenz zu machen

Frankfurter Rundschau:
Herr Lafontaine, der Bundeskanzler hat als Grund für seine Vertrauensfrage eine "rückwärts gewandte linkspopulistische Partei" genannt. Ehre, wem Ehre gebührt?

Oskar Lafontaine:
Ich habe das mit Erstaunen zur Kenntnis genommen. Ich habe meine Kandidatur ja erst erklärt, nachdem Schröder Neuwahlen angekündigt hatte. Was den Vorwurf angeht, wir seien rückwärts gewandt, da erübrigt sich eine Kommentierung. Wer betet denn mit Lohn-, Renten- und Sozialkürzungen die neoliberale Lehre des 19. Jahrhunderts herunter?

FR:
Schröder ist nicht der Einzige, der Sie für populistisch hält. Es gibt Leute, die Sie schon in einem Atemzug mit Rechtspopulisten wie etwa Pim Fortuyn nennen.

O.L.:
Immer dann, wenn meine Argumente stark waren, haben meine Gegner nur noch mit persönlicher Diffamierung reagiert. Da kann ich nur mit den Schultern zucken.

FR:
Fortuyn hat bis zu seiner Ermordung auch immer behauptet, er vertrete nicht rechte Thesen, sondern sage nur, was das Volk denke.

O.L.:
Hören Sie, ich war der erste prominente deutsche Politiker, der ein Staatsbürgerschaftsrecht gefordert hat, das nicht auf Blutsverwandtschaft und Abstammung gründet. Das war 1990, als ich Kanzlerkandidat der SPD war. Damals wurde ich quer durch alle Parteien verständnislos angeschaut. Die jetzigen Vorwürfe sind konstruiert und heuchlerisch.

FR:
Täuscht der Eindruck, dass sich Ihre Wortwahl geändert hat? Sie schreiben in Ihrem Buch: "Die Sprache ist immer verräterisch." Was verrät denn der Ausdruck "Fremdarbeiter" über Oskar Lafontaine?

O.L.:
Gar nichts. Im Altgriechischen heißt "Xenos" nicht nur der Fremde, sondern auch der Gast. Vielleicht für literarisch Interessierte: Meine Lieblingsnovelle ist "Der Fremde" von Albert Camus. Insofern verbinde ich mit diesem Begriff überhaupt nichts Negatives. Ich bestreite auch, dass das ein typischer Begriff des Nationalsozialismus ist. Die Nazis waren nicht in erster Linie fremdenfeindlich, sondern rassistisch. Das ist ein großer Unterschied.

FR:
Trotzdem: Die NPD lacht sich ins Fäustchen und auf der anderen Seite sind Leute wie der Zentralratsvorsitzende der Juden hellauf entsetzt. Macht Sie das nicht nachdenklich?

O.L.:
Zur NPD ist nur eines zu sagen: Sie weiß natürlich, wenn eine linke Partei kommt, die konsequent die Interessen der Arbeitnehmer, Arbeitslosen und Rentner vertritt, dass dann ihre Felle davon schwimmen. Insofern interessiert es mich überhaupt nicht, wie die reagieren. Zu den Erklärungen einzelner Verbände: Auch sie sind verpflichtet, sich zu informieren, bevor sie sich äußern.

FR:
Sie haben mit Gregor Gysi zusammen angekündigt, im Wahlkampf im Wählerspektrum der Rechtsextremisten zu wildern. Auch mit rechter Terminologie?

O.L.:
Man braucht dazu keine rechte Terminonologie, das ist ja einer der Irrtümer der Hartz IV- und Agenda-2010-Parteien. Man muss dazu nur glaubwürdig die Rechte der Arbeitnehmer vertreten und die wollen eben im Fall der Arbeitslosigkeit nicht mit solch asozialen Bedingungen konfrontiert werden, wie sie durch Hartz IV geschaffen wurden. Das Thema können und werden wir nicht den rechten Parteien überlassen.

FR:
Alle Bundestagsfraktionen sagen, was die neue Linkspartei will, kann kein Mensch finanzieren.

O.L.:
Das zeigt, dass die politischen Gegner schlicht realitätsblind sind. Wenn wir darauf hinweisen, dass alleine eine Vermögensbesteuerung wie in den USA 50 Milliarden mehr Einnahmen pro Jahr bringen würde, müssten sie das ja widerlegen können. Das können die aber nicht. Oder wenn wir sagen, dass die Steuerreform 2000 allein an Körperschaften bis heute 70 Milliarden Euro Steuerausfälle zur Folge hatte und dass dem Staat durch den gesenkten Spitzensteuersatz ebenfalls zig Milliarden durch die Lappen gegangen sind, dann sehe ich auch niemanden, der das glaubhaft bestreiten könnte. Sie sehen, unseren Gegnern gehen einfach die Argumente aus.

FR:
Die SPD hat nun ihr Wahlmanifest verabschiedet, mit Mindestlohn, Besteuerung von Erbschaften, Reichensteuer. Wenn das früher passiert wäre, wären Sie dann auch ausgetreten?

O.L.:
Wenn die SPD Hartz IV und die Agenda 2010 nicht zu verantworten hätte, wäre ich natürlich nicht ausgetreten. Der Schwenk, der jetzt kommt, ist aber völlig unglaubwürdig. Für mich ist das Wahlmanifest ein Manifest der Unglaubwürdigkeit. Ich habe mit vielen Arbeitnehmern gesprochen, die sagen: Zuerst senken sie den Spitzensteuersatz um elf Prozent und jetzt werben sie für eine Millionärssteuer - die verhöhnen uns.

FR:
Keine Angst, dass eine in Teilen linksgestrickte SPD Ihnen bis zur Wahl das Wasser abgräbt?

O.L.:
Ich würde es ja begrüßen, wenn sie es ernst meinten. Aber die Halbwertszeit der Versprechungen insbesondere Schröders war so gering, dass die SPD, die mit Schröder als Spitzenkandidat antritt, nicht glaubhaft linke Politik vertreten kann.

FR:
Wenn das Linksbündnis in den Bundestag kommt, kommt die große Koalition. Ist das nicht ein Pyrrhus-Sieg?

O.L.:
Eben nicht. Man sieht ja jetzt schon, dass sowohl die CDU als auch die SPD erheblich auf das Auftauchen unserer Partei reagieren. Bis jetzt nur mit Worten. Wenn es wirklich eine große Koalition gäbe und wir in den Bundestag kommen, werden die etliche Sozialabbau-Maßnahmen nicht mehr wagen. Darauf gebe ich Ihnen Brief und Siegel.

FR:
Wieso nicht? Zwei Volksparteien könnten das doch viel einfacher als nur eine.

O.L.:
Nein. Wir haben ständig Wahlen in Deutschland und das wissen die Beteiligten. Beide Volksparteien werden im Blick auf die Wähler allein durch die Anwesenheit einer starken Parlamentsfraktion daran gehindert, den Sozialabbau fortzusetzen.

FR:
Hand aufs Herz, Herr Lafontaine: Wie viel Sehnsucht nach später Genugtuung treibt Sie noch an?

O.L.:
Ich weiß nicht, was die späte Genugtuung sein soll.

FR:
Schröder überlebt zu haben beispielsweise.

O.L.:
Man muss trennen in der Politik zwischen Person und Sache. Es gab ein tiefes Zerwürfnis zwischen Herrn Schröder und mir. Das liegt aber Jahre zurück. Jetzt geht es um soziale Gerechtigkeit für Arbeitnehmer, Rentner und Arbeitslose - und nicht mehr um Schröder.

 

5.07.05

Hallo H... !

Wie Du siehst, haben wir den Mut, das Interview hier zu dokumentieren. Im übrigen haben wir uns in keiner Weise an einer "üblen Kampagne" gegen Lafontaine beteiligt. Alle Fakten zu Lafontaine, die auf unseren Seiten zu finden sind, wurden belegt. Wenn Du uns tatsächlich die Beteiligung an einer "üblen Kampagne" bezichtigen willst (Deine Formulierung ist zweideutig), solltest Du belegen, welche der von uns gegen Lafontaine gerichteten Behauptungen nicht wahrheitsgemäß sind.

Grundsätzlich wollen wir uns hier allerdings weniger mit der Glaubwürdigkeit von Herrn Lafontaine beschäftigen, sondern mit den gefährlichen Illusionen, die von ihm und zugleich von der neuen Partei "Die Linke." verbreitet werden. Hierzu möchte ich eine Äußerung aus dem Interview aufgreifen, an der diese illusionäre und damit in die Irre leitende Politik sehr schön widerlegt werden kann:

"Wenn wir darauf hinweisen, dass alleine eine Vermögensbesteuerung wie in den USA 50 Milliarden mehr Einnahmen pro Jahr bringen würde, müssten sie das ja widerlegen können. Das können die aber nicht."

Daß "Schwarz-Rot-Gelb-Grün" diesem Argument ausweicht, beweist überhaupt nichts. Daß aber Linke massenhaft auf einen solchen argumentativen Taschenspielertrick hereinfallen, ist beschämend für den Zustand der Linken in Deutschland. Viele sind über diesen "Beweis" für die Machbarkeit linker "Realpolitik" im Kapitalismus so begeistert, daß sie sich keine Sekunde Zeit nehmen, über die Merkwürdigkeit nachzudenken, daß hier ausgerechnet die US-Regierung als Kronzeugin herangezogen wird. Muß ich tatsächlich erst die Frage stellen, warum wohl die US-amerikanischen Großverdiener mit Freuden ihre Vermögenssteuer zahlen? Ist denn hierzulande Linken nicht bekannt, wozu der größte Teil des US-amerikanischen Staatshaushalts verwendet wird? Für Sozialausgaben etwa?

Der US-"Verteidigungs"-Haushalt betrug 2004 offiziell 379,9 Mrd. Dollar. Dies bedeutete eine Steigerung gegenüber dem Vorjahr um 15,3 Mrd. Dollar. Er war damit größer als der der folgenden sechs Staaten zusammen. Und bis 2007 soll er auf über 500 Mrd. Dollar steigen. Die Reichen in den USA wissen genau, daß sich diese Investition beispielsweise durch das "Irak-Engagement" gelohnt hat: Täglich fließen sechs bis sieben Millionen Barrel Öl aus dem Irak über die Türkei und das Mittelmeer unregistriert in die US-Wirtschaft. Das entspricht rund zwei Drittel der gesamten (offiziellen) Fördermenge Saudi-Arabiens. Damit dürfte auch klar sein, warum "Schwarz-Rot-Gelb-Grün" keine Antwort auf das Argument Lafontaines zu bieten hat.

Lafontaine - oder irgendwer sonst - hat aber keinerlei Chance Kanzler zu werden, wenn er die Vermögenssteuer oder Einkommensteuer, Gewerbesteuer, Zinsabschlagsteuer, Kapitalertragsteuer und Körperschaftsteuer erhöhen will, um dieses Geld statt für Aufrüstung in den Sozialetat fließen zu lassen. (Nebenbei bemerkt: Durch Senkung der fünf zuletzt genannten Steuerarten hat "Rot-Grün" seit 2000 jährlich Steuereinnahmen von über 20 Mrd. Euro verschenkt.) Niemand hat die Chance an die Regierung zu kommen oder deren Kurs auch nur zu beeinflussen, der oder die nicht zuvor von denen jahrelang durchgecheckt wurde, die die Macht im Staate haben. Den "Primat der Politik über die Ökonomie" zu verkünden, heißt nichts anderes, als gefährliche Illusionen zu verbreiten.

Bezeichnender Weise wird von der 'FR' nur nach dem Kurs der "Linke."-Partei im Falle einer großen Koalition gefragt. Von der Frage nach Tolerierung (oder gar Koalition mit) einer "rot-grünen" Regierung bleibt Lafontaine gnädig verschont, da deren Beantwortung einem Offenbarungseid gleichkäme. Und der Hoffnung, daß sich "Schwarz-Rot-Gelb-Grün" mit einer großen Koalition wie in den 60er Jahren der Gefahr einer neuen APO aussetzt, sollten wir uns besser nicht hingeben.

Lafontaine gibt selbst zu, daß "Rot-Grün" auf die Konkurrenz durch die neue "Linke."-Partei (bisher) "nur mit Worten" reagiert hat. Wer die Jahre 1998 bis 2002 nicht geschlafen hat, dürfte bemerkt haben, daß auch die Opposition einer größeren PDS-Fraktion im Bundestag keinerlei reale Wirkung hatte.

Die große Gefahr besteht jedoch darin, daß die neue "Linke."-Partei nach einer Bundestagswahl im Herbst durchaus eine reale Wirkung haben könnte. Ihre Aufgabe könnte nicht nur darin bestehen, große Teile der Linken weiter an eine parlamentarische Orientierung zu binden - als ihre Hauptaufgabe könnte sich erweisen, eine Fortsetzung der "rot-grünen" Politik des Sozialabbaus als Teil einer "rot-rot-grünen" Formation propagandistisch abzusichern. Der Slogan hierzu müßte nicht neu erfunden werden: "Ohne uns wäre alles noch schlimmer!"

Nur der Vollständigkeit halber seien hier unsere "Ausgrabungen" zu früheren Aktivitäten und Äußerungen Oskar Lafontains wiederholt und ein wenig ergänzt:

Lafontaine hat sich bereits vor 1998 für die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe inclusive Zwangsarbeit, die Schaffung eines Niedriglohn-Sektors, Arbeitszeitverkürzungen ohne Lohnausgleich und die Flexibilisierung von Tarifverträgen ausgesprochen.

"Wir werden ähnlich wie in England dafür sorgen, daß die Zahlung von Sozialhilfe an strenge Regeln geknüpft wird! Eine angebotene Arbeit muß angenommen werden. Sonst wird die Sozialhilfe gekürzt!"
Original-Zitat Oskar Lafontaine, 9. Juli 1998

Lafontaine äußerte sich weder während dem deutschen Kriegseinsatz im Kosovo noch dem in Afghanistan kritisch gegen die Bundesregierung.

Lafontaine äußerte sich in den letzten Jahren im Zusammenhang mit dem Fall Daschner positiv zur Folter.

Als saarländischer Ministerpräsident sorgte er persönlich für das restriktivste Landes-Pressegesetz in ganz Deutschland.

Lafontaine äußerte sich positiv zu den Plänen Otto Schilys, Internierungslager für Asylsuchende in Nordafrika einzurichten.

Lafontaine trat bereits 1989 als erster in der SPD für die Abschaffung des Asylgrundrechts ein. (Die Abschaffung des Asylgrundrechts 1993 war übrigens für Günter Grass, der da einmal einen Lichtblick hatte, der Anlaß, aus der SPD auszutreten.) Anhand einer Recherche von Zeitungsartikeln in den Jahren vor 1993 läßt sich nachweisen, daß Lafontaine innerhalb der SPD eine maßgebliche Rolle bei deren Zustimmung für die Abschaffung des Grundrechts auf Asyl hatte.

Lafontaine trat bereits als Oberbürgermeister der Stadt Saarbrücken - lange vor Inkraftreten des AsylbLG - konsequent für Sachleistungen und große Sammellager für Asylbewerber ein.

Ciao
    Klaus

 

8.07.05

Hallo Adriana!

Da Du Dich mit Deinen Artikeln schon öfter für die Rechte von AusländerInnen und Flüchtlingen eingesetzt hast, möchte ich Dich fragen: Warum habt Ihr in Eurem Boykott-Aufruf keine antirassistische Position aufgenommen? So wie dieser Aufruf formuliert ist, könnten ihn auch Neo-Nazis unterstützen! Ihr zieht Lafontaines Position in Zweifel - doch in der jetzigen Form ist Euer Aufruf mindestens ebenso zweifelhaft.

Mit antifaschistischen Grüssen
K...

 

8.07.05

Hallo K...!

Vielleicht bist Du jetzt beleidigt, aber ich kann Dir dazu nur mitteilen, was ich an anderer Stelle und in anderen Zusammenhängen schon genauso vertrat: Mir scheint, ein Teil der Linken hat einen antifaschistischen Verfolgungswahn. Obwohl sich beispielsweise bei den meisten Montagsdemos die TeilnehmerInnen (oft effektiv und gewaltfrei!) gegen die Teilnahme von Neo-Nazis zur Wehr setzten, wurde ihnen von Teilen der Linken unterstellt, sie würden sich nicht genügend von Rechten abgrenzen. Das ging so weit, daß der - von mir aus mehreren Gründen abgelehnte - Slogan "Wir sind das Volk" als reaktionär gebrandmarkt wurde. Ich will jetzt hier nicht in eine Diskussion über diesen Slogan einsteigen, aber von den allermeisten DemoteilnehmerInnen wurde dieser Slogan im demokratischen Sinne verstanden wie: "Wir sind die Mehrheit und ihr seid eine kleine Herrscherclique".

Genausowenig ist es praktikabel, bei jeder Unterschriftensammlung zu einer konkreten Sachfrage irgendwelche antifaschistischen Forderungen künstlich hinzuzufügen, damit nur ja kein Neo-Nazi die Unterschrift etwa neben meine setzen kann.

Wir haben es an anderer Stelle in diesem Diskussionsforum schon erklärt, warum wir uns auf drei und auf genau diese drei politischen Themen geeinigt haben, die nun im Aufruf stehen. Kurz zusammengefaßt: Es sind zugleich wichtige und zentrale Themen und an ihnen läßt sich eindeutig, klar und für die meisten Menschen nachvollziehbar aufzeigen, daß die reale Politik von "Rot-Grün" in den letzten sieben Jahren diametral ihren vergangenen und gegenwärtigen Versprechungen entgegensteht.

Zu Lafontaine: Wir ziehen Lafontaines Glaubwürdigkeit wegen dessen Äußerungen und politischen Entscheidungen in Zweifel - nicht etwa wegen seinem Schweigen. Übrigens wirst Du weder von mir noch von sonst einer Person aus dem Initiativkreis für den 'Wahlboykott 2005' eine Kritik an dessen Äußerung über "Fremdarbeiter" finden. Wir beteiligen uns nicht gerne an künstlich inszenierten medialen Scheingefechten. Die von uns dokumentierten Äußerungen und politischen Entscheidungen Lafontaines bieten dagegen eine fundierte Grundlage, diesen Herrn einzuschätzen.

Im übrigen lasse ich mich gerne mit den selben Maßstäben messen, die ich an andere anlege.

Ciao
Adriana

 

9.07.05

Hallo Leute!

Ein Aspekt wurde bei der bisherigen Diskussion noch gar nicht beleuchtet. Sicherlich geht es für viele Linke um eine Entscheidung zwischen der Wahl der PDS-WASG-Liste und Wahlboykott. Dabei ist in vielen Diskussionen ein wichtiger Aspekt, ob diese neue "Links"-Partei nicht ähnlich wie die PDS in Berlin statt der versprochenen Oppositionsrolle, die Rolle der Mehrheitsbeschafferin spielen wird. Einen anderen Aspekt finde ich noch wichtiger. Weder im PDS-Programm von 2003 noch im WASG-Programm ist irgendein kritisches Wort zu Wirtschaftswachstum zu finden. Nicht nur, daß in völlig naiver Weise Wirtschaftswachstum als ein Mittel zur Schaffung von Arbeitsplätzen dargestellt wird, schlimmer noch, es wird ignoriert, daß Wirtschaftswachstum auf einem begrenzten Planeten den beschleunigten Raubbau an den Ressourcen fortsetzt und zugleich mit der damit verbundenen Umweltverschmutzung und -vergiftung die Zerstörung voran treibt.

Selbst eine Partei wie die MLPD, die in ihrem gesamten Parteiprogramm gerade mal einen einzigen Satz über die Atomenergie verliert, schreibt darin - wenn auch reichlich nebulös - von "Kreislaufwirtschaft". An den Ex-SPDlern und Trotzkisten in der WASG und an den PDS-lern scheint die gesamte Diskussion über die "Grenzen des Wachstums" in den 70er Jahren spurlos vorüber gegangen zu sein.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Ich bin nicht so naiv, daß Programme von Parteien je einen Hinweis auf deren spätere reale Politik geben könnten. Sie dienen viel mehr dazu, den Wählern falsche Versprechungen zu machen. Partei-Programme können jedoch mehr Aufschluß über die Geistesverfassung ihrer Urheber geben als denen lieb ist.

herzliche Grüße
und
selbstverständlich mache ich beim Wahlboykott mit!
S...

 

9.07.05

Hallo S...!

Das ist ein Beitrag, dem wir - nach kurzer Diskussion - alle weitestgehend zustimmen!

Ciao
Die Initiativ-Gruppe

 

Über weitere Diskussionsbeiträge würden wir uns freuen. Sie werden auf diesen Seiten veröffentlicht.

Kontakt:
Klaus Schramm

webmaster@wahlboykott2005.de