WAHLBOYKOTT
2005

Diskussions-Seite

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Um die Diskussion übersichtlich zu halten, haben wir inzwischen für jede Woche eine eigene Unter-Seite eingerichtet. Die Unter-Seiten sind jeweils über eine Navigations-Leiste am oberen und unteren Ende erreichbar.


20.06.05

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich wundere mich ein wenig, dass Sie Ihren Aufruf auf die drei Themen Sozialabbau, sogenannter Atomausstieg und die Militär- und Rüstungspolitik beschränken. Auch auf vielen anderen Gebieten wurden Wahlversprechungen in eklatanter Weise gebrochen. Ich erwähne hier nur die sogenannte grüne Gentechnik. In kaum einem anderen Bereich stehen die öffentliche Wahrnehmung und die realen Folgen der Politik in so krassem Widerspruch. Da ich die Veröffentlichungen einzelner Personen aus Ihrem Kreis in den letzten Jahren mit Interesse verfolgt habe, kann ich diese Beschränkung nicht nachvollziehen.

Mit freundlichen Grüssen

...

 

21.06.05

Sehr geehrter Herr ...!

Über die Beschränkung des Boykott-Aufrufs auf drei Themen bestand in der Initiativ-Gruppe von Beginn an Konsens. Erfahrungsgemäß ist es so, daß um so mehr verschiedene Meinungen zu Tage treten, je mehr Themen zur Debatte stehen.

Auch wenn Sie bei vier politischen Positionen jeweils eine Zustimmung von beispielsweise über 70 Prozent in der Bevölkerung haben, heißt dies keinesfalls, daß auch nur eine Mehrheit in allen vier Positionen einer Meinung ist.

Aus einer Vielzahl glaubwürdiger Umfragen jedoch ist zu entnehmen, daß eine Mehrheit der Deutschen die im von uns zur Diskussion gestellten Aufruf vertretenen Positionen teilt. Um so augenfälliger ist es, daß die Allparteien-Koalition "Rot-Schwarz-Gelb-Grün" die Politik einer Minderheit vertritt.

Nun besagen zwar auch Umfragen, daß seit Jahren konstant eine Mehrheit von rund 70 Prozent der Deutschen die Zulassung von Gen-Food ablehnt. Wie Sie zu recht bemerkten, ist allerdings im Falle der "grünen Gentechnik" ein weit größerer Teil der Menschen in der Illusion befangen, die "rot-grüne" Bundesregierung habe hier ihre Interessen vertreten. So ist bei diesem Thema also auch nicht so offensichtlich, daß Regierungspropaganda und reale Politik weit auseinander klaffen.

Bei den anderen Themen wird dieses Auseinanderklaffen weitaus deutlicher wahrgenommen. Die Erkenntnis dieses Mangels an Demokratie ist jedoch die stärkste Motivation für eine Teilnahme an einem Wahlboykott. Wir können eine Kampagne für Wahlboykott nicht damit überladen, auf Gebieten Überzeugungsarbeit zu leisten, wo diese seit Jahren von stärkeren Kräften offenbar nur mit wenig Erfolg geleistet werden konnte.

Mit freundlichen Grüßen
Solveig Brendel

 

22.06.05

(...)

(...) Aktion fuer sehr nuetzlich innerhalb einer Diskussion, wohin Deutschland steuert.

Aber: Ich weiss beim besten Willen nicht, ob ein Wahlboykott der richtige Weg ist oder sein kann. Aus Erfahrung wissen wir doch, dass die grossen Parteien nur viel versprechen und dann doch ganz anders handeln, wenn sie an die Macht kommen. Ich neige in der momentanen Situation daher dazu, lieber Alternativen zu waehlen, die in der Lage sind, eine starke Opposition zu bilden. Und das sind nur das linke Wahlbuendnis und die Gruenen.

Dennoch: Das Problem an sich liegt ja viel tiefer und ist sehr viel schwieriger zu loesen: Die praktizierte Demokratie und die gesetzlich fixierten Rahmenbedingungen fuer sie muessen radikal geaendert werden. Wenn Kandidaten fuer irgendeine politische Wahl dem Waehler das Blaue vom Himmel herunter versprechen koennen und dann nach der Wahl nur noch ihrem Gewissen und ihrer Parteidisziplin verpflichtet sind, kann man von Demokratie nicht mehr reden. Auch sind Korruption und anderen Formen der Einflussnahme durch Lobbygruppen Tuer und Tor sperrangelweit geoeffnet.

Nur indem man langfristig darauf dringt, das politische System komplett umzugestalten, laesst sich etwas bewegen. Momentan ist es doch so, dass die Waehler bewegt werden, selbst aber ueberhaupt nichts erreichen koennen.

Ausserdem noch eine andere Anmerkung: In der heutigen Zeit, da das Kapital global agiert und das auch noch extrem schnell, in einer Zeit, in der Firmen mehr macht und Einfluss haben als Regierungen und Parlamente, scheint es mir ueberholt, nur lokal, regional oder national agieren zu wollen. Notwendig scheint mir, eine internationale Bewegung, die neue Rahmenbedingungen fuer das Wirken des Kapitals schafft. dabei geht es mir nicht um eine sozialistische Revolution - nein, es muss nur genau festgelegt werden, dass nationale und internationale Regelungen definiert werden udn sind, die auf eine nachhaltige wirtschaftliche und soziale Entwicklung weltweit abzielen. Das ist heute noch absolute Zukunftsmusik, aber letzlich auch im Interesses des Kapitals, weil sich so seine Vermehrungsmoeglichkeiten stabilisieren und das auch noch nachhaltig!

Bei meinen Ueberlegungen bin ich zu dem Schlusss gekommen, dass es noch weiterer Ueberlegungen bedarf, wie eine Zukunftskonzept umgesetzt wird. Auf die anstehende Bundestagswahl bezogen, bedeutet das fuer mich nur eine Wahl zwischen Linken und Gruenen. Beide zusammen haben ein Potential von rund 25% - eine gute Basis fuer eine starke Opposition.

Ich wuensche mir, dass die Diskussion sehr viel breiter wird und vor allem auch in die Medien getragen werden kann. Das Internet als technische Basis ist eine optimale Variante, Interessen zu buendeln - aber wie ich viele meiner Landsleute kenne, werden sie sich selbst zerfleischen und den Schwarzen, Roten und Gelben in die Haende arbeiten statt ihnen einen Denkzettel zu verpassen.

Beste Gruesse
J...

 

22.06.05

Sehr geehrter J ...!

Sie schreiben:
"(...) Aktion fuer sehr nuetzlich innerhalb einer Diskussion, wohin Deutschland steuert. Aber: Ich weiss beim besten Willen nicht, ob ein Wahlboykott der richtige Weg ist oder sein kann."

Es gibt darauf eine ganz einfache Antwort:
Wenn Sie "Rot-Schwarz-Gelb-Grün" oder die WASG-PDS-Liste für wählbar halten, wählen Sie diese! Wenn nicht, gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder Sie gehen nicht zur Wahl und belassen es dabei, daß Sie sich zumindest keiner Illusion mehr hingeben wollen, oder Sie entscheiden sich dafür, Ihre Meinung so zu sagen, daß sie nicht länger ignoriert werden kann. Wenn Ihre Meinung mit dem übereinstimmt, was in unserem Aufruf formuliert ist, bietet unsere Wahlboykott-Aktion zumindest die Chance hierzu.

Sie schreiben:
"Aus Erfahrung wissen wir doch, dass die grossen Parteien nur viel versprechen und dann doch ganz anders handeln, wenn sie an die Macht kommen. Ich neige in der momentanen Situation daher dazu, lieber Alternativen zu waehlen, die in der Lage sind, eine starke Opposition zu bilden. Und das sind nur das linke Wahlbuendnis und die Gruenen."

Auch das müssen Sie selbst entscheiden, ob Sie dem WASG-PDS-Bündnis oder gar den "Grünen" zutrauen, eine starke Opposition bilden zu können. Zur WASG-PDS-Liste ist auf dieser Seite bereits einiges gesagt - über die "Grünen" muß aus unserer Sicht nach den letzten sieben Jahren kein weiteres Wort mehr verloren werden.

Sie schreiben:
"Dennoch: Das Problem an sich liegt ja viel tiefer und ist sehr viel schwieriger zu loesen: Die praktizierte Demokratie und die gesetzlich fixierten Rahmenbedingungen fuer sie muessen radikal geaendert werden. Wenn Kandidaten fuer irgendeine politische Wahl dem Waehler das Blaue vom Himmel herunter versprechen koennen und dann nach der Wahl nur noch ihrem Gewissen und ihrer Parteidisziplin verpflichtet sind, kann man von Demokratie nicht mehr reden."

Diese Sichtweise ist ein wenig verkürzt. Der Ansatz der "Grünen" war ja eben 1979 - ebenso wie später jener der PDS und nun jener der WASG-PDS-Liste, innerhalb dieses semi-demokratischen Systems eine Partei oder Liste aufzustellen, die den korrumpierten Altparteien etwas entgegen setzen könnte. Nun muß sich mensch doch aber fragen: Warum hat dies nicht funktioniert?
Die Antwort hierauf bedarf ein wenig Analyse dessen, was da im Laufe der Zeit mit den und in den "Grünen" und mit der und in der PDS geschehen ist. Um den hier zur Verfügung stehenden Rahmen nicht zu sprengen, beschränke ich mich auf das Ergebnis: Die korrumpierenden Kräfte innerhalb des Parlamentarismus sind nicht allein auf finanzielle Bestechung beschränkt und bewirken, daß sich Menschen innerhalb dieses Systems in Kürze in einem für den Durchschnittsbürger unvorstellbarem Maß verändern - oder ausgetauscht werden. Diese Kräfte beruhen nicht erst heute auf der Dominanz der Ökonomie über die Politik. Daher ist auch offensichtlich, daß allein mit politischen Mitteln diese Dominanz nicht beseitigt werden kann.

Sie schreiben:
"Auch sind Korruption und anderen Formen der Einflussnahme durch Lobbygruppen Tuer und Tor sperrangelweit geoeffnet. Nur indem man langfristig darauf dringt, das politische System komplett umzugestalten, laesst sich etwas bewegen."

Nun ja, wer drängt gibt sich nicht mit Langsamkeit zufrieden. Wie dieses politische System allerdings "komplett umgestaltet" werden kann, ist tatsächlich die entscheidende Frage.

Sie schreiben:
"(...) Ausserdem noch eine andere Anmerkung: In der heutigen Zeit, da das Kapital global agiert und das auch noch extrem schnell, in einer Zeit, in der Firmen mehr macht und Einfluss haben als Regierungen und Parlamente, scheint es mir ueberholt, nur lokal, regional oder national agieren zu wollen."

Da sind wir uns einig.

Sie schreiben:
"Notwendig scheint mir, eine internationale Bewegung, die neue Rahmenbedingungen fuer das Wirken des Kapitals schafft. dabei geht es mir nicht um eine sozialistische Revolution - nein, es muss nur genau festgelegt werden, dass nationale und internationale Regelungen definiert werden udn sind, die auf eine nachhaltige wirtschaftliche und soziale Entwicklung weltweit abzielen."

Ich fürchte, auch Sie verstehen unter einer "sozialistischen Revolution" eine Machtübernahme nach dem Vorbild der russischen Oktoberrevolution. Wegen dieser Assoziation ist der Begriff "Sozialismus" vermutlich noch für die nächsten hundert Jahre unbrauchbar.
Eine wichtige Frage ist, wer denn die "nationalen und internationalen Regelungen" definieren darf? Der einzig gangbare Weg scheint mir der zu sein, daß dies eine Mehrheit der Menschen auf demokratische Weise in die Hand nimmt. Voraussetzung dafür ist jedoch, daß die Dominanz der Ökonomie beseitigt wird. Dies wird nicht nach und nach, sondern nur auf einen Schlag - und zudem zugleich weltweit - möglich sein. Ich würde dies eher als Umsturz denn als Revolution bezeichnen, denn entsprechend dem Wortsinn wird bei einer Revolution Oben und Unten lediglich umgewälzt und es entstehen neue Machtverhältnisse, die vielleicht sogar schlimmer sind als die zuvor bestehenden. Und entscheidend wird zugleich sein, ob es gelingt, einen solchen Umsturz gewaltfrei zu organisieren.

Sie schreiben:
"Das ist heute noch absolute Zukunftsmusik, aber letzlich auch im Interesses des Kapitals, weil sich so seine Vermehrungsmoeglichkeiten stabilisieren und das auch noch nachhaltig!"

Der Zusammenbruch des Kapitalismus kann schneller kommen als wir denken. Das kann noch hundert Jahre dauern, aber es kann auch bereits in naher Zukunft eintreten. Bereits 1975 schrieb Herbert Gruhl: »Jede Periode enthält nach Hegels Wort schon den Keim zu ihrem Gegensatz in sich. Dieser Gegensatz ist längst nicht mehr der zwischen östlichem Kommunismus und westlichem Kapitalismus; denn beide sind am Ende. Sie werden beide durch ein neues Prinzip abgelöst werden - die Frage ist nur, ob dies unter dem Zwang der Naturgesetze (durch Katastrophen) geschieht oder aufgrund menschlicher Einsicht.« In seinem 1975 erschienenen Buch 'Ein Planet wird geplündert' bot er eine gründliche Analyse des Kapitalismus, die sich - nebenbei bemerkt - nicht grundsätzlich von der des Karl Marx unterscheidet. Nachhaltigkeit und Profitprinzip - das zentrale Bewegungsmoment des Kapitalismus - sind unvereinbar.

Sie schreiben:
"Bei meinen Ueberlegungen bin ich zu dem Schlusss gekommen, dass es noch weiterer Ueberlegungen bedarf, wie eine Zukunftskonzept umgesetzt wird. Auf die anstehende Bundestagswahl bezogen, bedeutet das fuer mich nur eine Wahl zwischen Linken und Gruenen. Beide zusammen haben ein Potential von rund 25% - eine gute Basis fuer eine starke Opposition."

Ich hoffe, ich konnte Ihnen einige Anregungen für weitere Überlegungen geben.

Sie schreiben:
"Ich wuensche mir, dass die Diskussion sehr viel breiter wird und vor allem auch in die Medien getragen werden kann. Das Internet als technische Basis ist eine optimale Variante, Interessen zu buendeln - aber wie ich viele meiner Landsleute kenne, werden sie sich selbst zerfleischen und den Schwarzen, Roten und Gelben in die Haende arbeiten statt ihnen einen Denkzettel zu verpassen."

Nun ja, das mit dem "Denkzettel", womit doch meist ein Wahlzettel gemeint ist, hat zumindest bisher nie funktioniert. Sie schreiben selbst, daß die Parteien "nach der Wahl nur noch ihrem Gewissen und ihrer Parteidisziplin verpflichtet" sind. Warum Sie nun ausgerechnet die "Grünen" ausnehmen, ist mir unerfindlich.

Ciao
    Klaus Schramm

 

23.06.05

Liebe Wahlboykott-InitiativlerInnen!

Ich habe da eine Idee: Warum macht Ihr die Aktion nicht von Beginn an zweigleisig? Wer Mut hat, kann sich öffentlich (Anzeigen oder Internet) zur Wahlboykott-Aktion bekennen - die weniger Mutigen (wie ich) könnten doch einfach eine Erklärung an die beteiligten Rechtsanwaltsbüros senden, in der sie verbindlich erklären, sowohl den Aufruf zu unterstützen als auch bei der bevorstehenden Bundestagswahl im Herbst 2005 nicht zu wählen.

Wenn ich mich richtig erinnere, bot auch das Einsenden der Wahlbenachrichtigung zur Bundestagswahl 2002 - wie Ihr das organisiert hattet - keine Garantie, daß einzelne Schnapsnasen vielleicht doch wählen gingen und einfach nur ihren Personalausweis vorlegten. Wir Ihr selbst argumentiertet, hatte das Einsenden der Wahlbenachrichtigung vorrangig symbolische Bedeutung und nicht mehr - aber auch nicht weniger - Gewicht als das Unterzeichnen einer Unterschriftensammlung.

herzliche Grüße

Regina

P.S.: Meinen Vornamen dürft Ihr gerne veröffentlichen, aber bitte nicht meinen Nachnamen.

 

24.06.05

Hallo Regina!

Das ist echt eine brillante Idee! Wir waren alle in der Initiativ-Gruppe sofort davon begeistert und haben gestern und heute Deine Idee soweit ausformuliert, daß Du sie ab sofort auf der Eingangsseite wiederfindest. Leider konnten wir noch nicht alle RechtsanwältInnen kontaktieren, so daß diese Sammeladressen noch in den nächsten Tagen nachgetragen werden müssen.

Ganz herzlichen Dank!
Ciao
Die Initiativ-Gruppe


Zwischenbemerkung:
Wir können leider nicht alle Zusendungen berücksichtigen. Solche mit Argumenten oder Fragen, die bereits zur Sprache kamen, müssen leider vorläufig zurückstehen. Vielleicht können wir demnächst eine Mailing-Liste für die weiter Diskussion einrichten...


 

24.06.05

Hallo,

ganz interessant Deine Seite - als 'normalerweise' überzeugt praktizierender 'Ungültigwähler' habe ich mittlerweile meine Frau ebenfalls von dieser Alternative überzeugen können, bzw., sie hat sich nach erfolgter Einsicht dieser meiner Haltung angeschlossen.

Trotzdem spiele ich hin und wieder mit dem Gedanken, meine Stimme der Linkspartei zu geben - obwohl ich andererseits die möglichen Auswirkungen genau kenne.

Was mir allerdings fürchterlich widerstrebt ist der Gedanke an eine schwarz-gelbe Regierung geführt von einer Frau Merkel...

Es ist ein absoluter Zwiespalt - m.E. nach wäre es das Beste wenn die Neuwahlen nach der 'Legislaturperiode' stattfänden.

Viel Erfolg bei Ihrer Aktion

Sven ...
(Nachname bitte nicht veröffentlichen, falls vorgesehen - danke)

 

24.06.05

Hallo Sven!

Wir haben uns diese Form des Wahlboykotts gerade deshalb ausgedacht, weil uns "Ungültigwählen" oder Nicht-Wählen zu wenig ist. Dabei wirst Du in eine einzige große Schublade mit der Aufschrift "Sonstiges" einsortiert. Du bist dabei auch ununterscheidbar in der Gesellschaft von Rechtsextremen, Neo-Nazis, politisch Gleichgültigen oder Debilen.

Mit einem politischen Wahlboykott dagegen kannst Du zumindest ein Zeichen setzen, daß Du nicht nur dagegen bist, sondern - durch den damit verbundenen Aufruf - dem Ganzen zugleich eine politische Stoßrichtung geben. Und das hat umso mehr Gewicht, um so mehr Menschen, die alle drei Positionen des Aufrufs teilen, sich dabei beteiligen.

Weiter schreibst Du zwar, daß Du "die möglichen Auswirkungen genau" kennst, die eine Wahl der 'Linkspartei.' zur Folge haben können. Meinst Du damit auch eine mögliche Tolerierung einer "rot-grünen" Regierung? In den letzten Tagen kursieren immer mehr Gerüchte, wonach die 'Linkspartei.' eine Tolerierung von "Rot-Grün" ausgeschlossen habe. Wer aus diesem Lager hat das bisher verbindlich erklärt? Uns ist lediglich ein Versprechen von Gregor Gysi bekannt, wonach er sich gegen eine Koalition ausgesprochen hat. Koalition und Tolerierung sind jedoch nicht dasselbe - auch wenn sie aufs selbe hinauslaufen.

Letztlich ist die entscheidende Frage, die jede und jeder mit sich selbst ausmachen muß: Waren die letzten sieben Jahre unter "Rot-Grün" besser oder schlechter oder gleich schlecht wie die sechzehn Jahre zuvor. Nebenbei bemerkt: Es kann nicht um einen Vergleich zwischen "rot-grüner" Realität und "schwarz-gelber" Propaganda gehen. Seltsam, daß sich viele Linke immer noch davon Angst machen lassen. Dabei müßte doch klar sein, daß "schwarz-gelbe" Propaganda von "schwarz-gelber" Politik ebenso weit entfernt ist wie "rot-grüne" Propaganda von "rot-grüner" Politik.

Also:
Es gibt keine Notwendigkeit für eine Wahl zwischen Pest und Cholera!

Mit freundlichen Grüßen
Solveig Brendel

 

25.06.05

Liebe Boykott-Aktivisten!

Ich werde an Eurer Wahlboykott-Aktion teilnehmen und in den nächsten Tagen einen Brief an einen Eurer Rechtsanwälte senden, sobald Ihr die Adressen veröffentlicht. Eure Argumentation finde ich aber nicht in allen Punkten stichhaltig.

Ich habe mich schon zuvor fürs Nichtwählen entschieden, weil ich einerseits die von Euch im Aufruf angesprochenen Positionen teile und andererseits weder die vier etablierten Parteien, noch WASG oder PDS glaubwürdig finde. Pures Nichtwählen wäre aber recht unbefriedigend und so hoffe ich, dass mit dieser Wahlboykott-Aktion tatsächlich ein Zeichen gesetzt werden kann. Ich habe den Eindruck, dass im Vergleich zu 2002 inzwischen doch sehr viel mehr Menschen mit dem Gedanken spielen, sich dem Wahlzirkus zu verweigern.

Bei WASG und PDS muss ich mir gar nicht erst Lafontaine und Gysi anschauen. Was Klaus Schramm über deren mögliche Rolle im nächsten Bundestag schreibt, halte ich für spekulativ. Ich sehe diese beiden Herren durchaus nicht weniger skeptisch. Aber es genügt ein Blick auf das bisherige Führungspersonal dieser beiden Parteien, um sich klar zu machen, dass von WASG und PDS bestenfalls eine wachsweiche Opposition zu erwarten wäre. Es ist jetzt schon erkennbar, dass ihnen die Forderung "Weg mit Hartz IV" zu radikal ist.

Die Vergesellschaftung der Produktionsmittel steht zur Zeit nicht auf der Agenda. Dass weder WASG noch PDS dazu eine klare Position haben, ist ihnen daher nicht vorzuwerfen. Ihr habt selbst vermutlich nicht ohne Grund im Aufruftext auf die Forderung nach der Vergesellschaftung der Produktionsmittel verzichtet. Messt also nicht mit zweierlei Maß! Um eine möglichst breite Opposition zu organisieren ist es durchaus notwendig und legitim, sich auf einen gemeinsamen Nenner zu einigen, der zugleich hinreichend weit gefasst ist und die nötige Klarheit nicht vermissen lässt. Unter diesen Aspekten finde ich Euren Aufruf brauchbar.

Bei Eurer bisherigen Argumentation vermisse ich eine Antwort auf die Wunschvorstellung, die WASG-PDS werde im nächsten Bundestag "Möglichkeiten für eine Stärkung fortschrittlicher - demokratischer, ökologischer und sozialistischer - Positionen" bieten, indem sie "den demokratischen und sozialen Bewegungen im Land eine Stimme verleihen" werde (zitiert nach dem Ende Mai veröffentlichten Aufruf "Bundestagswahl September 2005 - Drohende neue Rechtsentwicklung und Chancen für linke Politik"). Ich bin mir selbst unschlüssig, ob eine starke Opposition im Bundestag nicht doch dem im letzten Herbst zu Beginn der Montagsdemos erkennbaren enormen Potential zu einem erneuten Aufschwung verhelfen könnte.

freundliche Grüsse
Werner

 

26.06.05

Lieber Werner!

Danke zunächst mal für Deine Teilnahme am Wahlboykott. Auf Argumente aus Deiner email, in denen wir übereinstimmen, gehe ich hier nicht weiter ein, um Platz zu sparen.

Du schreibst:
> Bei WASG und PDS muss ich mir gar nicht erst Lafontaine
> und Gysi anschauen. Was Klaus Schramm über deren
> mögliche Rolle im nächsten Bundestag schreibt, halte
> ich für spekulativ.

Ich kann jetzt hier nur für mich sprechen. Die auf dieser Diskussions-Seite namentlich gezeichneten Beiträge erheben ebenfalls nicht den Anspruch, die Meinung aller Mitglieder der Initiativgruppe wiederzugeben. Klaus hat hier allerdings (siehe weiter oben: "muß damit gerechnet werden") nur eine Möglichkeit beschrieben. Das Entscheidende ist, daß - bisher zumindest - niemand dafür garantieren kann, daß die WASG-PDS-Liste (oder jetzt: "Die Linke.") im nächsten Bundestag Rot-Grün nicht per Tolerierung erneut zur Regierung verhilft.

Du schreibst:
> Ich sehe diese beiden Herren durchaus nicht weniger
> skeptisch. Aber es genügt ein Blick auf das bisherige
> Führungspersonal dieser beiden Parteien, um sich klar zu
> machen, dass von WASG und PDS bestenfalls eine
> wachsweiche Opposition zu erwarten wäre. Es ist jetzt
> schon erkennbar, dass ihnen die Forderung "Weg mit
> Hartz IV" zu radikal ist.

Nicht nur das: Nach den Erfahrungen der letzten zwei Jahrzehnte mit den Grünen und der PDS muß es als durchaus reale Möglichkeit gesehen werden, daß mit der WASG-PDS erneut - unfreiwillig - eine passende Antwort auf den wachsenden gesellschaftlichen Widerstand gefunden wurde. Die Mächtigen müssen diese nur noch mit der entsprechenden Medien-Begleitung populär machen. Mit der Einrichtung solcher "Auffang-Gesellschaften" können die verlorenen Schäfchen - sachte, ganz sachte - wieder zur Herde zurück geführt werden.

Du schreibst:
> Die Vergesellschaftung der Produktionsmittel steht zur Zeit
> nicht auf der Agenda.

Wessen Agenda? Mal angenommen, daß es dazu eines gewaltfreien Umsturzes - wie Klaus schreibt - bedürfte, und ein solcher unbestritten heute weit und breit nicht in Sicht ist, wer hindert uns daran, über ein solches Ziel zu diskutieren? Da hätte Marx zum Thema »Vergesellschaftung der Produktionsmittel« Mitte des neunzehnten Jahrhunderts erst recht schweigen müssen, oder?

Du schreibst:
> Dass weder WASG noch PDS dazu eine
> klare Position haben, ist ihnen daher nicht vorzuwerfen. Ihr
> habt selbst vermutlich nicht ohne Grund im Aufruftext auf
> die Forderung nach der Vergesellschaftung der
> Produktionsmittel verzichtet. Messt also nicht mit zweierlei
> Maß! Um eine möglichst breite Opposition zu organisieren
> ist es durchaus notwendig und legitim, sich auf einen
> gemeinsamen Nenner zu einigen, der zugleich hinreichend
> weit gefasst ist und die nötige Klarheit nicht vermissen
> lässt. Unter diesen Aspekten finde ich Euren Aufruf
> brauchbar.

Es ist durchaus nötig, die politischen Positionen von WASG und PDS zu analysieren, weil das Auskunft über deren Glaubwürdigkeit gibt und Schlüsse zuläßt, was von ihnen im nächsten Bundestag zu erwarten wäre. Es kommt nicht allein darauf an, die "richtigen" Forderungen zu stellen, sondern auch darauf, welche Perspektive WASG oder PDS aufzeigen können, um diese zu realisieren. Klaus Kritik an diesen Parteien ist ein wenig polemisch und ungenau. So ist beispielsweise das aktuelle Programm der PDS reichlich widersprüchlich: Einerseits kommt darin der Satz vor: "Unternehmerisches Handeln und Gewinninteressen sind wichtige Voraussetzungen für Innovation und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit." Und wegen innerparteilichen Querelen wurde dieser Satz sogar zweimal ins Programm hineingeschrieben. An anderer Stelle heißt es dagegen im selben 2003 beschlossenen PDS- Programm: "Wir wollen, dass diese gesellschaftlichen Strukturen zurückgedrängt und schließlich überwunden werden, damit die Menschheit einen Ausweg aus dieser zerstörerischen Entwicklungslogik findet." Wie in einem bunten Warenhaus ist in diesem PDS-Programm für alle was geboten. Darin heißt es: "Wir tun dies aber auch in rückhaltloser Auseinandersetzung mit den Verbrechen, die im Namen des Sozialismus und Kommunismus begangen wurden, und in Ablehnung jedes Versuchs, mit Mitteln der Diktatur Fortschritt zu erreichen." Wer sich in Partei-Sprech nicht auskennt, käme vermutlich auf die Idee, damit wäre die DDR gemeint. Doch zugleich heißt es im PDS-Programm: "Die antifaschistisch-demokratischen Veränderungen im Osten Deutschlands und das spätere Bestreben, eine sozialistische Gesellschaft zu gestalten, standen in berechtigtem Gegensatz zur Weiterführung des Kapitalismus in Westdeutschland, der durch die in der Menschheitsgeschichte unvergleichbaren Verbrechen des deutschen Faschismus geschwächt und diskreditiert war. Zur Geschichte der DDR gehören bemerkenswerte Ergebnisse und wertvolle Erfahrungen im Kampf um soziale Gerechtigkeit, um die Bestimmung der Ziele der Produktion im Interesse der Bevölkerung, um die Teilhabe breiter Bevölkerungsteile an Bildung und Kultur und um ein solidarisches und friedliches Gemeinwesen auf deutschem Boden." Wer das alles mit abgestimmt hat, muß zuvor nicht nur eine Gehirnwäsche durchgemacht haben, dessen Gehirn muß zudem geschleudert und gefriergetrocknet worden sein.

Zurück zu Deinen Argumenten:
Ein Aufruf zum Wahlboykott ist kein Parteiprogramm. Deshalb sind da durchaus verschiedene Maßstäbe berechtigt. Aber ein grundlegendes Kriterium wäre doch zumindest, daß der Text nicht in sich widersprüchlich ist. Und ein zweites Kriterium ist aus meiner Sicht, ob es eine Perspektive enthält, ob es in die Zukunft oder die Vergangenheit gerichtet ist. Die Programmatik von WASG und PDS ist auf den Sozialstaat der 70er Jahre ausgerichtet. Im Unterschied zu Klaus nehme ich die DDR-NostalgikerInnen in der PDS wegen ihrem geringen Gewicht in der Führungsriege nicht so ernst. Die neo-sozialdemokratische Ausrichtung sowohl von WASG als auch PDS ist nicht nur völlig unrealistisch, sie hat zudem mit der schrumpfenden Macht der Gewerkschaften keine gesellschaftliche Basis. Sollte es bei einem Einzug der WASG-PDS-Liste wider jede Wahrscheinlichkeit zu einem Einfluß auf die Ausrichtung der Regierungspolitik einer rot-grünen Koalition kommen, wäre diese zum Scheitern verurteilt. Was wäre die Folge?

Du schreibst ganz zurecht: "Um eine möglichst breite Opposition zu organisieren ist es durchaus notwendig und legitim, sich auf einen gemeinsamen Nenner zu einigen,..." Deshalb können und wollen Klaus und ich (und einige andere) ihre politischen Ansichten zum Problem »Vergesellschaftung der Produktionsmittel« nicht einem breiten Bündnis überstülpen. Um eine gemeinsame politische Perspektive zu entwickeln sind sicherlich noch viele Diskussionen nötig. Ein Ansatz zu einer solchen Perspektive ist jedoch bereits "negativ" im diesjährigen Aufruf zum Wahlboykott enthalten: Das Nein zum scheindemokratischen Wahl-Angebot ist zugleich die Forderung nach wirklicher Demokratie! Auf dem jetzigen historischen Stand ist eine Teilnahme an der Bundestagswahl eine Legitimierung des scheindemokratischen Zustands.

Du schreibst:
> Bei Eurer bisherigen Argumentation vermisse ich eine
> Antwort auf die Wunschvorstellung, die WASG-PDS
> werde im nächsten Bundestag "Möglichkeiten für eine
> Stärkung fortschrittlicher -demokratischer, ökologischer
> und sozialistischer - Positionen" bieten, indem sie "den
> demokratischen und sozialen Bewegungen im Land
> eine Stimme verleihen" werde (zitiert nach dem Ende Mai
> veröffentlichten Aufruf "Bundestagswahl September
> 2005 - Drohende neue Rechtsentwicklung und Chancen
> für linke Politik"). Ich bin mir selbst unschlüssig, ob eine
> starke Opposition im Bundestag nicht doch dem im
> letzten Herbst zu Beginn der Montagsdemos erkennbaren
> enormen Potential zu einem erneuten Aufschwung
> verhelfen könnte.

Mit dem bisher Geschriebenen habe ich vielleicht schon teilweise eine Antwort gegeben. Nebenbei bemerkt: Nach den zurückliegenden Erfahrungen mit der PDS in mehreren Parlamenten erscheint es mir sehr unwahrscheinlich, daß eine WASG-PDS-Fraktion im nächsten Bundestag per "Sprachrohr" irgendwie zu einem "Aufschwung" beitragen könnte.

Wenn wir uns einmal anschauen, was die Menschen 1968 in der CSSR und 1970 in Chile begeistert und in Bewegung versetzt hat, dann war dies die Perspektive einer demokratischen Gesellschaft, in der die Mehrheit die Politik bestimmt und in der auch die Mehrheit die Wirtschaft bestimmt, nicht eine kleine Kaste von Funktionären - in der die Mehrheit bestimmt, was und wie produziert wird. Doch dieser Ansatz ist verschüttet und heute weitgehend unbekannt. Gerade hier in Deutschland hatten sich viele Linke - wenn auch oft klammheimlich - mit dem "Sozialismus" des Ostblocks identifiziert. Entsprechend tief war nach dessen Untergang der Absturz in die Resignation oder entsprechend schmerzhaft die Umorientierung auf die Sozialdemokratie. Damit verbunden ist eine völlige Perspektivlosigkeit, die sich oft nur hinter dem Ausspruch verbirgt, daß der Zusammenbruch des Kapitalismus nun mal nicht "auf der Agenda" stehe. Es ist die Kapitulation vor der brachial und selbstbewußt vorgetragenen TINA-These: "There is no alternative!" Doch diese These heißt nichts anderes als: Der Kapitalismus wird ewig fortbestehen.

Auf der anderen Seite begeistern sich viele junge Menschen heute für den Slogan "Eine andere Welt ist möglich!" Auch wenn dieser Slogan von 'attac' lediglich mit intellektuellen Konstrukten wie der "Tobin-Steuer" unterfüttert wird, hat er dennoch gerade deshalb seine große Anziehungskraft, weil in ihm - wenn auch ein wenig verschämt - die Sehnsucht nach einer Welt jenseits des Kapitalismus aufscheint. Nicht zufällig wird dieser Slogan inzwischen von einer ganzen Reihe von Organisationen aufgegriffen - mit dem durchsichtigen Motiv des "Image-Transfers". Wichtiger als irgendwelche Slogans ist es, eine gesellschaftliche Utopie zu erarbeiten. Nur mit einer realistischen Utopie, die ein Gegenmodell zum Kapitalismus entwirft und zugleich einigermaßen plausibel beschreibt, wie Demokratie und eine Hegemonie des Politischen über das Ökonomische machbar wäre, läßt sich der weitverbreitete Überdruß am Kapitalismus in Bewegung versetzen.

Ciao
Frank

 

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