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12.07.05
Hallo Solveig!
Du schriebst am 21.06.:
"Die Erkenntnis dieses Mangels an Demokratie ist jedoch die stärkste
Motivation für eine Teilnahme an einem Wahlboykott."
Ich verstehe nicht, wie Du Dich auf der einen Seite für Demokratie
und auf der anderen Seite gegen Wahlen aussprechen kannst.
Gruß
Werner
12.07.05
Hallo Werner!
Wahlen garantieren keine Demokratie.
Auch in der früheren D"D"R gab es Wahlen. Doch die Plätze auf der
Einheitsliste der SED ebenso wie die der "Blockparteien" wurden
vorab vom Regime festgelegt. Auch die 99-Komma-Nochwas-Ergebnisse
bei den Wahlen sprachen eine deutliche Sprache. Hierzulande ist
die Manipulation nicht ganz so offensichtlich wie damals in jenem
Staat. Die Erfahrungen professioneller Werbung haben im Laufe
der Jahrzehnte dazu geführt, daß viele Menschen - gleichgültig,
ob bei Zigaretten oder Parteien - davon überzeugt sind, das zu
wählen, was sie wollen.
Hinzu kommt, daß auf dem Weg durch die Partei-Hierarchien nach oben
kritische und intelligente Menschen ausgefiltert werden. Nur
opportunistische und "anpassungsfähige" PolitikerInnen bekommen die
Chance, eine Karriere zu machen. Nicht zuletzt spielt dabei
die Auswahl der Mainstream-Medien eine große Rolle, die ihrerseits
von den Anzeigen der tatsächlich Mächtigen in diesem Staate
abhängig sind. Zu Wort kommt und interviewt wird, wer die Gewähr
dafür bietet, daß sie oder er seine Rolle spielt. Gleichgültig
welches die Worte sind, wählt die "Wirtschaft" viel effektiver
PolitikerInnen danach aus, was sie tun. So wurde auch Gerhard
Schröder acht Jahre lang als niedersächsischer Ministerpräsident
"auf Herz und Nieren" geprüft, bevor er Bundeskanzler werden durfte.
Viele WählerInnen von "Rot-Grün" waren nach 1998 davon überrascht,
daß eine andere Politik betrieben wurde als zuvor im Wahlkampf
versprochen. Wenn sie sich über die Politik Schröders als
niedersächsischer Ministerpräsident informiert hätten, wären sie
nicht überrascht gewesen.
Ein anderes Beispiel:
Auch im Irak gab es Anfang diesen Jahres Wahlen.
Damit wurde dem Land eine von der US-Besatzung vorausgewählte
Marionetten-Regierung aufgezwungen. Der US-Wirtschaft fließen so
täglich sechs bis sieben Millionen Barrel Erdöl praktisch kostenlos
zu, ohne daß dies auch nur registriert wird.
Zurück zu Deutschland:
Wenn die Mehrheit zu entscheiden hätte - was in einer Demokratie
selbstverständlich sein sollte - gäbe es in Deutschland längst einen
Atomausstieg. Dies sei nun mal nicht so schnell möglich?
1978 stieg beispielsweise Österrich aus der Atomenergie aus, 1987
wurde der Atomausstieg in Italien realisiert.
Wenn die Mehrheit zu entscheiden hätte - was in einer Demokratie
selbstverständlich sein sollte - gäbe es in Deutschland keine
steigenden Rüstungsausgaben bei gleichzeitigem Sozialabbau. Geld
wäre genug vorhanden: Die 30 im Deutschen Aktienindex DAX notierten
Unternehmen konnten ihren Profit beispielsweise von 2003 auf 2004
im Durchschnitt um 88 Prozent steigern. Das sind offizielle Zahlen.
Ich spreche mich nicht gegen Wahlen aus. Doch hierzulande steht nur
eine Allparteienkoalition "Schwarz-Rot-Gelb-Grün" zur Wahl.
Und auch die neue "Linkspartei" ist in meinen Augen keine Alternative.
Mit freundlichen Grüßen
Solveig Brendel
12.07.05
Liebe Wahlboykott-Initiativler!
Ihr kommt den tatsächlichen Absichten der entscheidenden Funktionäre in der PDS schon recht nahe,
wenn Ihr schreibt, die neue Linkspartei solle als Auffangbecken für all jene dienen, die sich von der
Regierungspolitik von Rot-Grün mit mehr oder weniger großem Schrecken abwendeten. Doch die
Pläne gehen noch erheblich darüber hinaus. Ähnlich wie schon kurz nach der Gründung der Grünen
Anfang der 80er Jahre ungefragte Ratschläge immer lauter wurden, daß nur über Koalitionen mit der
SPD grüne Politik durchgesetzt werden könne, wird schon bald der Imperativ aus den Medien dröhnen:
Nur zusammen mit der SPD läßt sich der Sozialstaat retten. Zugleich werden dann alle, die sich dem
entgegen stemmen wollen, als "Fundamentalisten" an den Pranger gestellt. Das funktioniert immer
nach dem gleichen Schema!
Die Wasserträger an der Basis, die heute gutgläubig für die neue Linkspartei an der Basis Wahlkampf
machen, werden benutzt, um den Strom, der mehr und mehr aus der betonierten Rinne ausbricht, wieder
zurück auf die Mühlen der SPD und damit in systemkonforme Bahnen zu lenken.
Von Wolfgang Pohrt ist zwar nicht mehr so oft und so viel zu hören - dafür hat es dann aber Hand
und Fuß. So meinte er letztes Jahr in einem Interview mit der 'Jungen Welt': "Findet in diesem Land
keine Verarmung und Verelendung statt? Sind davon nicht Millionen betroffen? Haben nicht
Hunderttausende dagegen demonstriert, aufgerufen dazu von Organisationen, deren oberstes
Ziel es stets war und ist, jeden entschlossenen Protest im Keim zu ersticken?"
Und einer der PDS-Funktionäre, Peter Porsch, Vorsitzender der sächsischen PDS-Landtagsfraktion,
warnte im Sommer 2004 kurz vor Beginn der Montags-Demos in einem Interview mit der Springer-Zeitung
'Die Welt', er fürchte, die kaum noch zu bändigende Wut über die "Arbeitsmarktreform" könne sich
schnell in "unkontrollierbare Formen" wandeln.
Welches Ziel die maßgeblichen Leute in der PDS ansteuern, haben sie oft schon in erstaunlicher
Offenheit und Deutlichkeit geäußert. Doch große Teile der deutschen Linken halten sich lieber die
Ohren zu, ersparen sich das selbständige Denken und lassen sich von lächerlichen Umfrageergebnissen
blenden. Als seien Wahlergebnisse von zehn oder zwölf Prozent der Schlüssel zur Macht im Staate!
Bereits im Juli 2002 verriet André Brie, Co-Autor des PDS-Parteiprogramms von 2003, im 'stern' seine
"Perspektive zusammen mit der SPD dieses Land (zu) regieren". Und mit nahezu prophetischer Gabe
schrieb er Lafontaine "eine entscheidende Rolle beim Zusammenkommen unserer Parteien" zu.
Ich fürchte nur, all diese Argumente werden ungehört verhallen und auch Euer Wahlboykott wird
totgeschwiegen. Trotz alledem werde ich mich beteiligen!
Mit solidarischen Grüßen
Paul
12.07.05
Hallo Paul!
Deine Argumente sind eine echte Bereicherung. Wir überlassen es gerne anderen
Diskussions-TeilnehmerInnen sie zu erwidern.
Ciao
Die Initiativ-Gruppe
14.07.05
An Paul:
Das sind doch alles nur Unterstellungen, was Du da bringst und keine Argumente.
Immer werden irgend welche Funktionäre wie Brie oder Polit-Stars wie Lafontaine
und Gysi zitiert, um damit zu beweisen, daß es mit der neuen Linkspartei in
Richtung Anpassung gehen werde. Dabei ist die Mehrheit an der Basis - und dazu
zähle ich mich auch - nicht bereit, einen solchen Kurs mitzumachen. Nur weil
das in der Geschichte mit anderen Parteien schon so gelaufen ist - das will
ich gar nicht bestreiten - muß das mit der neuen Linkspartei nicht auch
passieren. Das ist kein Naturgesetz!
Angesichts der Chance, die dieser Neubeginn der deutschen Linken bietet, zu
einem Wahlboykott aufzurufen, halte ich für unverantwortlich.
Trotz alledem mit solidarischen Grüßen
Edith
15.07.05
Hallo Edith!
Es geht hier nicht um Naturgesetze, sondern um Machtverhältnisse und Interessen,
zu deren Durchsetzung unseren Gegnern alle Mittel recht sind. Es ist ja wohl
nicht zu leugnen, daß die Mächtigen im Lande im sich immer wieder mit überraschend
großen Teilnehmerzahlen formierenden Protest eine Gefahr für den Bestand des
Systems sehen. Auch die Ansätze zu politischen Streiks wie bei Opel im letzten
Oktober haben sie als Alarmsignal erkannt.
Bei der Wahl ihrer Mitteln greifen die Mächtigen mangels Kreativität allerdings
meist schematisch auf Altbewährtes zurück: Zuckerbrot und Peitsche, Spaltung der
Bewegung, "bewährte" Kräfte an die Spitze der Bewegung lancieren und - eben:
die Bewegung in systemkonforme Bahnen umlenken.
Wenn sich die Bewegung auf die Mitarbeit in einer Partei und die Beteiligung
am Parlamentarismus einläßt, läßt sie sich auf ein Terrain locken, wo sie
klar unterlegen ist. Hunderttausende bestechen zu wollen, wäre ein hoffnungsloses
Unterfangen. Bei fünfzig Repräsentanten im Bundestag wird dies dagegen ein leichtes
Spiel, wobei es genügt, einigen wenigen "Einsichtigen" mit Interviews und
Medienpräsenz zu Einfluß zu verhelfen und die "Fundamentalisten" lächerlich
zu machen oder totzuschweigen. Was willst Du dem entgegensetzen?
Ihr habt es ja bisher noch nicht einmal geschafft, in der neuen Linkspartei
überhaupt eine - gescheige denn, eine klare - Position zur Frage einer
Tolerierung oder Zusammenarbeit mit einer rot-grünen Bundesregierung nach
der Wahl im Herbst festzulegen.
Sich auf ein solches Parteiprojekt einzulassen oder diese Partei auch nur zu wählen,
ist unverantwortlich.
Mit solidarischen Grüßen
Paul
16.07.05
Hallo Edith, hallo Paul!
Ich möchte jetzt hier nicht inhaltlich argumentieren, sondern Euch nur darum
bitten, auf Angriffe wie "unverantwortlich" zu verzichten. Wer hier bereit
ist, über ihre oder seine Sichtweise zu diskutieren, beweist, daß der eigene
Standpunkt nicht gedankenlos übernommen wurde. Wenn sich Argumente als
fehlerhaft herausstellen, mag das an Unvorsichtigkeit, aber nicht gleich
an Verantwortungslosigkeit gelegen haben.
Dazu solltet Ihr Euch überlegen, daß es sich bei Prognosen, wie die neue
Linkspartei sich nach der Bundestagswahl verhalten und weiterentwickeln
wird, immer um eine Portion Spekulation handelt.
Ciao
Adriana
16.07.05
An Paul:
Deine Argumente überzeugen mich nicht. In der Einschätzung der gegenwärtigen politischen
Situation stimmen wir überein. Aber wenn die Basis aus genügend politisch erfahrenen
Menschen besteht - und das ist sowohl bei PDS als auch WASG der Fall - können sie
auf ParlamentarierInnen genügend Druck ausüben und sie notfalls zum Rücktritt
zwingen, wenn sie beispielsweise versuchen sollten, eine Politik weiteren
Sozialabbaus zu unterstützen.
mit solidarischen Grüßen
Edith
17.07.05
Hallo Adriana, hallo Edith!
Zunächst mal: Ich nehme den Vorwurf "unverantwortlich" zurück. Das war eine
unbedachte Replik und Adriana hat mit ihrer Kritik recht.
Zu Ediths letzter Email möchte ich anmerken, daß ich bezweifle, ob wir in der
Einschätzung der gegenwärtigen politischen Situation übereinstimmen. Denn
wer sich für die Wahl der neuen Linkspartei ausspricht, gibt damit zu
erkennen, daß er an politische Gestaltungs- und Einflußmöglichkeiten im
Rahmen der Kapitalismus glaubt. Es ist ja gerade das fatale, daß diese neue
Linkspartei die Illusion von einem Primat der Politik über die Ökonomie
bestärkt. Doch selbst, wenn die Linkspartei an der nächsten Regierung
beteiligt würde, könnte damit nichts an der Richtung der gegenwärtigen
Politik geändert werden. Schon Kurt Tucholsky sagte zu recht: "Sie meinen,
sie seien an der Macht, dabei sind sie nur an der Regierung." Wer meint,
mit Argumenten direkten Einfluß ausüben zu können, hat noch nicht begriffen,
mit welchen Gegenern wir es zu tun haben. Das sind keine Leute, denen wir
die Gefährlichkeit von Atomkraftwerken erklären müßten oder die tatsächlich
daran glauben, daß sie den "Sozialstaat nur umbauen, um ihn zu erhalten".
Argumente haben einen Sinn; aber nicht im Parlament. Nur über den indirekten Weg,
eine Mehrheit zu gewinnen, kann eine andere Politik durchgesetzt werden.
Nur über realen ökonomischen Druck, sei es durch Streiks, durch Boykotts
oder massenhaft verändertes Konsumverhalten kann etwas bewegt werden.
Deshalb haben auch die unrecht, die den gewerkschaftlichen Kampf als
systemerhaltend ablehnen. Entscheidend ist aber, daß jeder Kampf auf
ökonomischem Gebiet mit einer klaren antiparlamentarischen Haltung
einhergeht.
Wenn Edith behauptet, die Parteibasis könne irgendeinen Druck auf Parlamentarier
ausüben, soll sie bitte erklären, wie das funktionieren soll. Daß dies nicht
funktionieren kann, ist einerseits durch den Passus im
Grundgesetz recht gut gewährleistet, in dem es heißt: "Die Abgeordneten des
Deutschen Bundestages (...) sind an Aufträge und Weisungen nicht gebunden
und nur ihrem Gewissen unterworfen." (Artikel 38)
Das bedeutet, daß sie an
Aufträge und Weisungen ihres "Souveräns" nicht gebunden sind, durchaus aber an solche
des Kapitals - und daß sie letztere als Äußerungen ihres Gewissens verbrämen können.
Mit diesem Artikel 38 ist so ziemlich alles andere wertlos, was in diesem Grundgesetz
an schönen Ideen dinsteht. So hat der Deutsche Bundestag es bis heute nicht einmal
für nötig befunden, Artikel 26 zu streichen, in dem zu lesen ist: "Handlungen, die
geeignet sind, (...) die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind
verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen."
Und andererseits ist die Einflußlosigkeit der Leute an der Parteibasis gegenüber
"ihren" Parlamentariern dadurch gewährleistet, daß die Gegenseite nicht nur
über sehr viel mehr Geld, sondern damit auch über ein Heer von Lobbyisten und
über die gesamte Medienmacht verfügt. Deshalb wird auch die Bedeutung der
illegalen Korruption maßlos überschätzt. "Die legale Korruption, der Reiz und
auch die Befriedigung, Teil einer besonderen Herrschaftselite zu sein - was
sich auch in materiellen und immateriellen Staussymbolen ausdrückt -, reicht
in der Regel zur Einbindung in die Interessen eines Mensch und Natur verachtenden Herrschaftssystems." (Jutta Ditfurth)
Wenn Edith davon schreibt, die Parteibasis könne "auf ParlamentarierInnen genügend
Druck ausüben und sie notfalls zum Rücktritt zwingen", erlaube ich mir die Frage:
Womit?
Mit solidarischen Grüßen
Paul
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