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30.08.2005
Einfach "Nein"?
Nichtwähler sollten ernst genommen werden
Mit der wachsenden politischen Unsicherheit der Bundesbürger hinsichtlich der Bundestagswahl
könnte das Lager der Nichtwähler (vgl. Spaß mit dem Kreuz (1)) wachsen und weiter an Bedeutung
gewinnen. In speziellen Internet-Foren können nun die Wahlabstinenzler ihre Gründe für den
Wahlboykott darlegen.
Durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe vom 25. August, welche
die inszenierte Vertrauensfrage der Regierung Schröder für verfassungskonform erklärte, ist der
Weg frei für die Bundestagswahlen am 18. September. Obwohl rund einundneunzig Prozent der
Wähler überzeugt sind, daß dieser Wahl eine besondere Bedeutung zukomme, zeigen sich
jedoch vierzig Prozent des Stimmvolks noch unentschlossen, welcher Partei sie ihre Stimme
geben sollen.
Im Vergleich zum Wahljahr 2002, wo zu einem ähnlichen Zeitraum vor ihrer Stimmabgabe rund
73 Prozent der Wähler ihre politische Entscheidung bereits festgelegt hatten, sind es vor dieser
Abstimmung nur 64 Prozent. Auch wenn die rot-grüne Bundesregierung bei der Bevölkerung
drei Wochen vor der Wahl trotz leichter Stimmengewinne (der SPD) von zwei auf insgesamt
38 Prozent immer noch weit abgeschlagen hinter CDU/CSU/FDP (insgesamt 51 Prozent)
liegt (2), sind 69 Prozent der Wähler nicht der Ansicht, daß eine neue Bundesregierung eine
positive wirtschaftliche und soziale Entwicklung Deutschlands gewährleisten könne. Und
beachtliche sechzig Prozent (3) stimmen inzwischen der Aussage zu:
Man verliert allmählich jegliches Vertrauen in die Politik. Ich mache mir wirklich Sorgen, wie es mit Deutschland weitergehen soll.
Vereinheitlichende Interpretation divergierender Interessen
Die repräsentative Demokratie ist in eine schwere Vertrauenskrise geraten (vgl. Nicht wählen oder
direkt wählen (4)). Die Menschen bekommen mehr und mehr den Eindruck, dass ihre Interessen in
den Parlamenten von den gewählten Volksvertretern nur noch zum Schein repräsentiert werden, und
man dort ihre Anliegen nur noch im Sinne des Neoliberalismus interpretiert. Beispiele dieser im
Dienst der Eliten neoliberalen Interpretation von Allgemeininteressen sind die Energiepolitik der
GRÜNEN und die von der CDU geplante Abschaffung (5) steuerfreier Zuschläge für
Krankenschwestern und Polizisten .
Die GRÜNEN betreiben neoliberale Politik mit ökologischen Argumenten: Danach bedeuten erhöhte
Energiepreise für Privathaushalte weniger Verbrauch von fossilen Brennstoffen, und dies gewährleistet
wiederum einen schonenden Umgang mit der Natur. Nach dieser Logik würde auch die Privatisierung
von Wasser einen wertvollen Beitrag zum Erhalt der Erde leisten. Die CDU will mit dem Historiker Götz
Aly z.B. die Rücknahme der oben erwähnten steuerfreien Zuschläge damit begründen, daß diese
während des Faschismus eingeführt wurden und ihre Streichung also eine auf neoliberale Art praktizierter
Antifaschismus darstellt. (Freilich könnte man mit dieser Begründung auch die Abschaffung von
Autobahnen fordern oder sich für die Auflösung des "Führerprinzips" im deutschen Aktienrecht
(6) stark machen.)
Diese vereinheitlichende neoliberale Interpretation von Wählerinteressen führt die repräsentative
Demokratie in eine kritische Lage: Mit dem Verschwinden der programmatischen Unterschiede der
Parteien (für welche auch die erneute Berufung des Siemens-Chef Heinrich von Pierer zum Vorsitzenden
eines politischen "Rates für Innovation und Wachstum" steht, der bereits bei Kohl und Schröder
Kanzlerberater war), dem Darstellen der politischen Strategie als alternativlos und der mit einer
Amerikanisierung des Wahlkampfs nur unzureichend kaschierten Substanzlosigkeit der politischen
Debatten, in welcher die Interessen der Bevölkerungsmehrheit keine wesentliche Rolle mehr spielen,
wird aber das Legitimationsprinzip der repräsentativen parlamentarischen Demokratie untergraben.
Dies hat zur Folge, dass sich tatsächlich ein wachsender Teil der Bevölkerung aus nachvollziehbaren
Gründen aus dem offiziellen politischen Diskurs zurückzieht:
--Ein immer größerer Teil der Bevölkerung in der Bundesrepublik ist parteienmüde, nicht unbedingt
desinteressiert an Politik, jedoch verdrossener Stimmung, was die konkreten Ausformungen politischen
Agierens angeht. Die gängigen Weltdeutungen der politischen Profis und der massenmedialen
MeinungsbildnerInnen bestärken diese Verdrossenheit; wenn die Globalisierung in ihren
gesellschaftspolitischen Folgen ein Naturvorgang ist, nahezu unbeeinflussbar, was soll dann noch
die Einmischung in nationalstaatliche oder europäische parlamentarische Abläufe? Und speziell in
der Bundesrepublik: Wenn es zu den umstürzenden Eingriffen in das soziale System, also dem
Abschied von Sozialstaat, keine Alternativen gab und gibt, nicht einmal unter einer sozialdemokratisch
geführten Bundesregierung - und diese Alternativlosigkeit wird dem Publikum ja Tag für Tag
eingehämmert -, weshalb sollte dann jemand, der Politik nicht zu seinem Beruf machen kann oder
will, seine knappe Zeit für politische Diskussion und Aktivitäten verwenden?-- Arno Klönne (7)
Die Existenz der neu gegründeten Linkspartei, die momentan auf sieben Prozent der Wahlwilligen
kommt, taugt in dieser gesellschaftlichen und politischen Notlage nur bedingt als Silberstreif am
Horizont. Schließlich hat man in den letzten Jahren der Bundesrepublik schon zwei Mal die
Erfahrung machen müssen, daß linke Parteien mit der Wahl ins Parlament ihre Identität weitgehend
bis ganz verloren haben. Dies zeigen die Entwicklung der GRÜNEN von einer basisdemokratischen,
ökologischen, sozial und feministisch orientierten und genuin pazifistischen Organisation zur
Joschka-Fischer-Partei, die mit Eintritt in die Regierung sämtliche Inhalte über Bord bzw. in
Richtung Neoliberalismus umgebogen hat und die der PDS, die ebenfalls als Koalitionspartner der
SPD zur vollsten Zufriedenheit der Sozialdemokraten in den Länderparlamenten von Berlin und
Mecklenburg-Vorpommern denselben neoliberalen Kurs mitträgt, weswegen sie auch bei der Wahl
2002 mit Stimmverlusten abgestraft wurde.
Deswegen gibt es berechtigte Zweifel, ob eine Abkehr der von einem Großteil der Bevölkerung
abgelehnten neoliberalen Politik, die gegen die Interessen der Lobbies ertrotzt werden müsste,
ausgerechnet vom Parlament aus erfolgen kann, wo die "korrupte Binnendynamik politischer
Strukturen" (Karl Heinz Roth) vorherrschend ist, die primär nicht mehr auf den Wählerwillen,
sondern auf die Existenzsicherung der Abgeordneten zielt, welche sich deswegen bereitwillig
den Interessen der Lobbies unterordnen.
Internet-Foren speziell für Nichtwähler
Der Berliner Verein für eine demokratische und digitale Entwicklung der europäischen
Informationsgesellschaft poldi.net, welcher für die von ihm betriebene Polit-Website (8) bereits
mit dem Grimme-Preis bedacht wurde, hat nun mit www.ich-gehe-nicht-hin.de (9) den
wahlabstinenten Teilen der Bevölkerung ein eigenes Internet-Portal errichtet, auf dem sie die
Gründe für ihre Nichtwahl darlegen können. Das Nichtwähler-Portal wurde bereits in Großbritannien
zum Wahlkampf 2005 erfolgreich getestet, wo Tausende britische Nichtwähler die Möglichkeit
nutzten, ihre Entscheidung öffentlich zu begründen. Der Geschäftsführer von poldi.net, Christoph
Dowe, erläutert die mit der Errichtung der Website verbundene Intention seiner Vereins:
--Die Wahlbeteiligung in Deutschland sinkt. Es wird Zeit, dass wir die Nichtwähler ernst nehmen
und ihre Stimmen hören. Mit dem Projekt geben wir den fast 13 Millionen Wahlberechtigten, die
im Jahr 2002 nicht zur Wahl gegangen sind, ein Forum. Wir hoffen, es wird nicht nur genutzt,
sondern auch von allen politisch Verantwortlichen gelesen!--
Das Internet-Portal wird mit regem Interesse wahrgenommen: Rund 2500 Einträge und
7300 Kommentare sind bereits schon geschrieben worden. Auch auf der von dem
Gründungsmitglied der GRÜNEN Klaus Schramm mitinitiierte Internet-Platform
wahlboykott2005.de (10) besitzen die Nichtwähler die Möglichkeit, aus ihrem Herzen keine
Mördergrube zu machen.
Reinhard Jellen
Anmerkungen:
(1) http://www.telepolis.de/r4/artikel/20/20825/1.html
(2) http://www.sueddeutsche.de/,tt1l3/deutschland/special/
917/58859/index.html/deutschland/artikel/442/59383/article.html
(3) http://www.faz.net/s/Rub192E771724394C43A3088F746
A7E2CD0/Doc~E567599AFA3E04BCD89407C22DE3D788
2~ATpl~Ecommon~Scontent.html
(4) http://www.telepolis.de/r4/artikel/20/20331/1.html
(5) http://www.taz.de/pt/2005/06/02/a0138.nf/text
(6) http://www.schubel.de/GesR%20II/GesR%20II_%A7%204.htm
(7) http://www.muenster.org/sperre/inhaltsframes/aktuell/rezension.html
(8) http://politik-digital.de
(9) http://www.ich-gehe-nicht-hin.de
(10) http://www.wahlboykott2005.de
Dieser Artikel ist online zu finden auf der web site:
http://www.telepolis.de/r4/artikel/20/20829/1.html